Nicht im Namen des Anderen

Diskussionen eines Aufsatzes von Udo Wolter, November 2005

Der Antirassismus und sein Verhältnis zu Islamismus und Islamophobievon UDO WOLTER 

Es ist fast schon grotesk, aber dennoch nötig, über zweihundert Jahre nach der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung daran zu erinnern, daß die Verteidigung der Rechte des Anderen keinesfalls davon abhängig gemacht werden darf, ob man dessen Ideen oder Handlungen sympathisch findet.

Der Antirassismus ist bei vielen Kritikern des Islamismus in Verruf geraten. Anlaß dazu bot, daß Antirassisten in den letzten Jahren wiederholt an der Dämonisierung Israels als rassistischer Staat beteiligt waren, etwa bei der UN-Rassismuskonferenz 2001 im südafrikanischen Durban (siehe iz3w 256). In der globalisierungskritischen und der Antikriegs-Bewegung wird unter den Vorzeichen einer gemeinsamen Frontstellung gegen die USA und Israel teilweise ein offener Schulterschluß mit islamistischen Gruppierungen praktiziert (siehe iz3w 281). Vor allem aber haben nicht wenige antirassistische Aktivisten und Wissenschaftler in vermeintlicher Abwehr des „Feindbildes Islam“ eine oftmals verharmlosende, nicht selten sogar apologetische Position gegenüber Islamisten eingenommen.

Wenn nun im folgenden der Umgang mancher Antirassisten mit der Problematik des Islamismus und der gesellschaftlichen Reaktion auf ihn kritisiert wird, so ist damit keine pauschale Denunzierung „des“ Antirassismus verbunden. Letztere verbietet sich allein schon deshalb, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse von zahllosen Formen rassistischer Gewalt und Ausgrenzung durchzogen sind. Antirassistische Interventionen sind unabdingbarer Bestandteil jeder emanzipatorischen Gesellschaftskritik und Praxis. Zudem gibt es – auch wenn hier im weiteren der Einfachheit halber der Singular benutzt wird – „den“ Antirassismus genauso wenig wie „die“ Linke. Doch all das ist kein Grund dafür, die Kritik an der Ideologiebildung von Akteuren zu unterlassen, die sich als antirassistisch verstehen.

Umkehrung von Opfer und Täter

Wie notwendig eine solche Kritik ist, zeigt sich am Umgang mit der Situation nach dem Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh. In seinem Gefolge wurde von Politik und Medien eine „Integrationsdebatte“ losgetreten, die von identitätsstiftenden Ab- und Ausgrenzungen gegenüber Migranten mit muslimischem Hintergrund bestimmt war. Islamismuskritik verband sich darin mit der Beschwörung „christlich-abendländischer Leitkultur“ und rechten Ausrufungen eines „Ende des Multikulturalismus“. Viele antirassistische Linke zogen daraus aber die fatale Konsequenz, über den Islamismus des Täters lieber zu schweigen – aus Angst, dem Umschlag der grassierenden Ausgrenzung von Muslimen in offenen Rassismus Vorschub zu leisten. Statt von einer antirassistischen Position aus den Unterschied zwischen der Diskriminierung von Migranten mit muslimischem Hintergrund und der dringend notwendigen Kritik des Islamismus in all seinen Formen klarzustellen, wird letzterer beschwichtigt oder beschwiegen. Doch gerade weil der mediale und politische Mainstream seine Kritik am Islamismus zur „Maskierung“[1] orientalistischer und teilweise offen rassistischer Diskurse benutzt, sollten Antirassisten ihm nicht die Kritik am Jihadismus und an der Islamisierung migrantischer Milieus überlassen.

Statt dessen wurde auf öffentlichen Diskussionen der antirassistischen Szene in Berlin um den Mord an Van Gogh vor allem über die Provokationen des Opfers, seine Beleidigungen von Muslimen und Juden diskutiert. Etwa darüber, daß Van Gogh mit seinen Attacken gegen jede „Political Correctness“ einen neurechten Gestus pflegte und wegen seiner geschmacklosen Bemerkungen über Juden auch Antisemit gewesen sei. Natürlich sind die vom Berufsprovokateur Van Gogh verwendeten antisemitischen und rassistischen Stereotype scharf zu kritisieren, doch rechtfertigen sie die Relativierung des an ihm exekutierten Mordes?[2] Auffallend abwesend blieb in diesen Debatten hingegen der islamistische Judenhaß, obwohl dieser aus dem Bekennerbrief, den der Mörder dem sterbenden Van Gogh mit einem Messer an den Leib heftete, geradezu ins Auge springt.

Nur am Rande zur Kenntnis genommen wurde in den antirassistischen Debatten auch, daß die Bluttat sich vor allem gegen die Drehbuchschreiberin Ayaan Hirsi Ali richtete, für die ihr Regisseur Van Gogh stellvertretend sterben mußte. Ihre Abwendung vom Islam und radikale Kritik an islamisch begründeter Frauenunterdrückung war dem Mörder wohl besonders unerträglich. Auch hier ist in den antirassistischen Debatten oft eine seltsame Verkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer zu beobachten: Nicht etwa die Tatsache wurde skandalisiert, daß sich Ali schon lange vor dem Mord nur noch unter Polizeischutz öffentlich bewegen konnte und sich danach vor islamistischen Mordkommandos verstecken mußte. Zum Thema wurde vielmehr mit durchaus vorwurfsvollem Unterton, daß sie sich durch ihre Abkehr vom Islam und ihren Beitritt zur rechtsliberalen Partei VVD zur „guten“ integrationswilligen Immigrantin nach dem Geschmack der rassistischen Mehrheitsgesellschaft habe machen lassen. So warf ihr etwa die Autorin Sabine Kebir vor: „Hirsi Ali versteht es, alle Details ihres eigenen schrecklichen Mädchenschicksals der Öffentlichkeit so eindrucksvoll mitzuteilen, dass sie im niederländischen Kulturkampf zwangsläufig als sinnbildhaftes Opfer eines menschenverachtenden Islam erscheint.“ (FREITAG, 21.1.2005)

Die Taz-Redakteurin Ulrike Hermann attestierte Hirsi Ali auf einer Veranstaltung in der Berliner Volksbühne, daß sie den Bürgerkriegsislamismus ihres Herkunftslandes Somalia einfach auf die Muslime in den Niederlanden übertragen würde und sie diese zusammen mit ihrem Regisseur Van Gogh vorsätzlich beleidigen wollte. Aufgrund der Tatsache, daß Hirsi Alis Partei VVD an der niederländischen Regierung beteiligt ist, richtete Hermann an Van Gogh den Vorwurf, „einen Pakt mit der Staatsmacht“ eingegangen zu sein – indem er mit ihr einen islamkritischen Film drehte. So schnell wird aus der Figur der subalternen Migrantin die personifizierte Staatsmacht. Die tatsächlichen Beweggründe und politischen Hintergründe, welche Hirsi Ali von den holländischen Sozialdemokraten zur VVD geführt haben, und ihre prekäre Position innerhalb dieser Partei interessieren antirassistisch gestimmte Linke hingegen kaum.

Ähnlich oberflächlich bleibt auch die Auseinandersetzung mit dem Film „Submission“. An dem Film wurde aus antirassistischer Sicht meist die orientalistische Ästhetisierung und die Darstellung von Koranversen auf einem nackten Frauenkörper kritisiert, welche für gläubige Muslime unerträglich sei. Auf die vor dem Hintergrund postkolonial-feministischer Theorien eigentlich naheliegende Interpretation, daß Hirsi Ali mit dieser Darstellung eine Kritik der Einschreibung sexistischer Gewalt auf den Körper der Frau durch das Medium der koranischen Schrift bezweckt, kam im antirassistischen Spektrum niemand. Das auch nur in Erwägung zu ziehen, wäre wohl nach vorherrschender Interpretation „islamophob“.

Antiwestliche Melancholie

Ein ähnliches Versagen in der Auseinandersetzung mit religiös begründeter Unterdrückung einerseits und rassistischer Stigmatisierung andererseits zeigt sich beim antirassistischen Umgang mit der berühmt-berüchtigten Kopftuchfrage. Besonders aufschlußreich ist diesbezüglich ein Artikel, der jüngst in der antirassistischen Zeitschrift ZAG erschien, und der hier stellvertretend für viele ähnliche Beiträge kritisiert werden soll. Die Autorin Brigitta Huhnke argumentiert darin auf Grundlage postkolonialistischer Theoreme gegen weiße feministische „Herrinnen der Plantage“.[3] Unter diesem plakativen Titel unterstellt Huhnke mehrheitsdeutschen Feministinnen und linken Männern, die sich in der Debatte um das Karlsruher Kopftuchurteil auf die Seite der Verbotsbefürworter stellten, orientalistische und rassistische Gelüste nach „Belehrung und Disziplinierung“ kopftuchtragender Migrantinnen. Letztere kommen im Text fast ausschließlich als „junge Musliminnen“ der zweiten und dritten Generation vor, die selbstbewußt den Einstieg in ihre Berufskarriere als „Geschäftsfrauen, Ärztinnen, Naturwissenschaftlerinnen, … Lehrerinnen und Anwältinnen“ „mit Kopftuch tun“ wollen. Aber, so Huhnke, „gerade jetzt im Kampf gegen ‚Terror‘ und ‚Islamismus‘ suchen sich `Feministinnen‘ ausgerechnet die `fremde‘ Frau, führen sie zwanghaft als Angehörige einer entwerteten Kultur vor.“

Die Möglichkeit, daß Islamisten nicht nur in Anführungszeichen, sondern ganz real existieren und über den Kopftuchzwang eine hierarchische Geschlechterordnung und die Islamisierung „ihrer“ Communities durchsetzen wollen, tut Huhnke mit dem Verweis auf Edward Saids Analyse der orientalistischen Imagination des von ungezügelten Trieben geleiteten „wilden Mannes“ ab. Zwar räumt die Autorin in einem Nebensatz ein, daß „auch Musliminnen ihr Kopftuch nicht immer freiwillig“ trügen. Doch vor allem sieht sie in ihnen „die ‚Anderen‘, die sich selbstbewußt in westlichen Gesellschaften dem Zwang des Zurschaustellens entziehen, somit deutliche Kritik an westlich-kapitalistischer Warenästhetik am Frauenkörper üben“.

Während die deutsche Antirassistin Huhnke ihre feministischen Wunschvorstellungen derart auf kopftuchtragende Muslima projiziert, unterschlägt sie vollständig die Tatsache, daß die von ihr angegriffenen Aufrufe gegen das Kopftuch in Deutschland auch von zahlreichen Migrantinnen unterzeichnet wurden. Sie kritisiert: „(…) in der taz mutierte es (das Kopftuch, U.W.) zum ‚gelben Stern‘ (24. Januar 2004). Alles ist aus der Leere westlicher Melancholie möglich.“ Der Vergleich des Kopftuches mit dem antisemitischen Stigmatisierungszeichen ist zwar genauso fragwürdig wie Fereshda Ludins Aussage, sie habe sich nach dem Kopftuchurteil gefühlt „wie nach dem Holocaust“. Was Huhnke aber in ihrem antiwestlichen Affekt übersieht, ist die Tatsache, daß die zitierte Aussage aus einem Interview mit einer oppositionellen iranischen Exil-Autorin stammt, die vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der islamistischen Diktatur in ihrem Heimatland argumentiert.

Huhnke zitiert aus dem bekannten Aufsatz „Can the Subaltern speak?“ der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak: „White men are saving brown women from brown men“ und fügt sarkastisch moralisierend hinzu: „weiße Frauen helfen.“ Wo Spivak jedoch auch von einer „Doppel-Einschreibung“ kolonialistischer und indigen-patriarchalischer Diskurse in weibliche Körper spricht, will Huhnke nur die von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückte Muslima sehen. Spivaks berühmtes Diktum „es gibt keinen Raum, von dem aus das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt sprechen kann“, trifft wohl auch für die antirassistische Wahrnehmung (ex-)muslimischer Migranten zu, wenn diese die `falsche‘ politische Meinung vertreten. Huhnke ist da keineswegs ein Einzelfall, wie sich am Beispiel Hirsi Alis ebenso wie an zahlreichen weiteren zeigt.[4] Die antirassistische Begeisterung für die unterdrückten „Anderen“ findet ihre Grenzen oft dort, wo diese nicht die eigenen Positionen vertreten. Aus einer Position der moralischen Verteidigung des oft kulturrelativistisch bestimmten „Anderen“ werden damit Positionierungen vorgenommen, die auf die Vernachlässigung säkularer Migranten zugunsten islamistischer Kräfte hinauslaufen.[5]

Antisemitismus gegen Muslime?

Im Zentrum der Kritik am Antirassismus steht das Verhältnis antirassistischer Positionen zum islamistischen Antisemitismus. In den letzten Jahren, besonders unter dem Eindruck der Entwicklungen seit dem 11. 9.2001 und der Selbstmordanschläge in Israel, hat es sich als immer problematischer erwiesen, daß der Antirassismus über kein Analyseinstrumentarium verfügt, um das Spezifische des Antisemitismus gegenüber dem Rassismus zu erfassen. Wenn sich Rassismustheoretiker überhaupt damit befassen, beziehen sie sich meist auf einen mittlerweile 15 Jahre alten Text des französischen Rassismusforschers Etienne Balibar.[6]

Balibar leitet darin den seiner Auffassung nach seit dem Zweiten Weltkrieg dominierenden kulturalistisch und differenzialistisch begründeten Rassismus aus dem Antisemitismus als dessen „Prototyp“ ab: „Unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten läßt sich der gegenwärtige differenzialistische Rassismus seiner Form nach als ein verallgemeinerter Antisemitismus betrachten.“ Diese Auffassung hat zu einer bis heute stilbildenden Verwischung des Unterschieds zwischen den verschiedenen Formen des Rassismus und dem antisemitischen Vernichtungswahn geführt. Immer wieder wird der Holocaust als bloße „maßlose Fortsetzung der rassistischen Konstellation des 19. Jahrhunderts“[7] begriffen, so etwa vom Kölner Rassismustheoretiker Mark Terkessidis.

Diese Verwischung des Unterschieds zwischen Rassismus und Antisemitismus wirkt auf verschiedenen Ebenen mit dem antirassistischen Verhältnis zu Islamismus und Antisemitismus unter muslimischen Migranten zusammen. So wird in jüngerer Zeit immer öfter Islamophobie mit Antisemitismus gleichgesetzt. Auch das findet sich ansatzweise schon bei Balibar und wurde von diesem selbst seither nicht etwa revidiert, sondern nach dem 11. September noch systematisch ausgebaut: „Der Anti-Judaismus beziehungsweise der Judenhaß stellt nicht mehr die einzige Form des Antisemitismus dar (..) Er ist zum einen Teil eines Begriffspaares geworden (…) dessen anderer Teil ist der Araberhaß beziehungsweise die Islamfeindlichkeit.“[8] Diese systematische Begriffsverwirrung wird nun in der innerlinken Auseinandersetzung um die Frage eines neuen, unter anderem von Islamisten ausgehenden Antisemitismus allzu oft dazu benutzt, jede Kritik am Islamismus als „Islamophobie“ oder „Anti-Islamismus“ zu diskreditieren.[9]

Terkessidis etwa schloß sich der These, daß „antisemitische Stereotype auch auf `die Muslime‘ übertragen“ würden, ausgerechnet im Kontext einer Argumentation an, welche die Befunde der EUMC-Studie über zunehmenden Antisemitismus unter muslimischen Migranten in Europa herunterzuspielen bemüht war.[10] Er behauptete, daß eine analytische Differenzierung von Rassismus und Antisemitismus die Opfer von beidem gegeneinander ausspiele. Er schrieb das vor dem Hintergrund einer Situation, in der von nicht wenigen Antirassisten Israel ständig mit Rassismus und Apartheid gleichgesetzt wird und in der über antizionistische Ticketformeln wie den Palästinensern als „Opfer der Opfer“ tatsächlich Opfer gegeneinander ausgespielt werden. Solche Begriffsverwirrungen lassen nachvollziehen, warum der Kritische Theoretiker Detlev Claussen mit Blick auf Balibar und andere eine bestimmte „antirassistische Ideologie“ als „Kümmerform von Gesellschaftskritik“ bezeichnete.[11]

Die Figur des Anderen

Vor kurzem hat der französische Philosoph Alain Finkielkraut einen Essay vorgelegt, der weiterführende Überlegungen zu dem in antirassistischem Gewand auftretenden neuen Antisemitismus in Europa bietet.[12] Finkielkraut nimmt den Begriff des „neuen“ Antisemitismus ernst und versucht das qualitativ Neue an der Entwicklung der letzten Jahre herauszuarbeiten, statt einfach nur die Wiederkehr des Verdrängten oder latent immer Vorhandenen zu beschwören. Dabei gelangt er zu wichtigen Einsichten über den Bedeutungswandel der für den Antirassismus zentralen Kategorie des `Anderen‘.

Zunächst zeichnet Finkielkraut nach, wie es dazu kommen konnte, daß in scheinbar paradoxer Weise gerade die moralische Abrechnung Europas mit seiner eigenen Vergangenheit von Judenvernichtung, Kolonialverbrechen und nationalistischen Gewaltausbrüchen zu einem neuen, als Hass auf Israel daherkommenden Antisemitismus geführt hat. In der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Überwindung der Shoa sei Europa im Gegensatz zu den siegreichen USA immer Sieger, Opfer und Schuldiger zugleich. Aus dieser Konstellation heraus entstand eine Selbstsicht Europas als „ein ‚bußfertiger Richter‘, der seinen ganzen Stolz auf seine Reue bezieht und nicht aufhört, sich im Auge zu behalten. ‚Ich nie wieder!‘ verspricht Europa und stürzt sich mit aller Macht auf die Aufgabe.“

Finkielkraut zeigt auf, wie sich die in dieser Haltung bereits angelegte Hybris nun mit voller Wucht gegen Israel und die Juden richten muß: „Man prangert nicht mehr die kosmopolitische Berufung der Juden an, im Gegenteil, man rühmt sie und wirft ihnen mit betrübter Heftigkeit vor, diese Berufung zu verraten.“ Man werfe den Juden vor, im Gegensatz zu allen anderen als Einzige nun unbekümmert nationale Souveränität auszuüben und nicht mißtrauisch nach dem schlummernden Nazi in sich zu äugen. Und so käme es, daß sie in den Augen der schuldbewußten Europäer „den Antisemiten von einst wie zwei Eier gleichen und seelenruhig deren Nachfolge antreten.“ Selten ist so konzise nachgezeichnet worden, über welchen Projektionsmechanismus Israel gerade in den Augen der von moralischem Antifaschismus Durchdrungenen zum Inbegriff des Rassismus werden konnte. Der neue Antisemitismus findet sich also „im Lager des Respekts und nicht in dem der Ablehnung. (…) In den Reihen derer, die bedingungslos zum Anderen stehen, und nicht bei den bornierten Kleinbürgern, die nur das Selbst lieben.“

In einer zweiten Argumentationsfigur arbeitet Finkielkraut nun die Problematik der Figur des „Anderen“ im linken Antirassismus heraus. Dazu trifft er eine Unterscheidung zwischen der Kategorie des „Anderen“ und der des „Feindes“. In den Augen der europäischen Linken wären nämlich die Palästinenser nicht die Feinde der Israelis, sondern deren Andere. Und das hat Konsequenzen: „Im ersten Fall (des Feindes, U.W.) ist die Beziehung politisch und kann unter Umständen zu einem Kompromiß führen, (…) im zweiten Fall handelt es sich um Rassismus, und alles, was rassistisch ist, muß verschwinden. (…) Mit dem Anderen Krieg zu führen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Dies dürfte genau wiedergeben, was auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001 passierte, als viele Nichtregierungsorganisationen mit antisemitischen Stereotypen Hetze gegen Israel betrieben und es in ihrer Abschlußerklärung als rassistischen Staat markierten. Über die moralisch absolute Besetzung der Kategorie des Anderen erklärt Finkielkraut die Unfähigkeit oder den Unwillen der meisten Antirassisten, den islamistischen Antisemitismus als das zu benennen, was er ist.

Im Anschluß an Finkielkraut empfiehlt es sich daher im Interesse eines linken Antirassismus, der dem Anspruch radikaler Gesellschaftskritik genügen will, eine moralische Abrüstung der Kategorie des Anderen vorzunehmen. Das bedeutet keineswegs, sich von dieser Kategorie zu verabschieden. Es wäre im Gegenteil notwendig, einen konsequent kritischen Begriff des Anderen zu entwickeln, der von jeder identitären Gegenbesetzung dieser Kategorie absieht. Nur dann wird es möglich sein, nicht nur die Selbstdefinition des Westens über die Imagination seines orientalischen Anderen zu kritisieren, sondern genauso dessen nicht minder identitäre und in ihrer Konsequenz mörderischen Gegenstücke wie die islamistische Jihad-Ideologie mit ihrem antiwestlichen und antisemitischen Feindbild. Sowohl der moderne europäische als auch muslimisch-arabische Antisemitismus lassen sich auf der Grundlage materialistischer Gesellschaftskritik als wahnhafte Reaktion auf kapitalistische Vergesellschaftung begreifen. Das erfordert aber ebenso eine Verabschiedung jener auch im Antirassismus verbreiteten kulturrelativistischen Perspektive, die jede universalistisch begründete Kritik sofort als „eurozentrisch“ zurückweist. Eine Perspektive, die statt dessen an die kritische Selbstreflexion der Aufklärung anknüpft, braucht weder historische Unterschiede noch die internationalen wie innergesellschaftlichen Machtverhältnisse entlang rassistischer Linien zu ignorieren.

In der Mitte der Gesellschaft

Die weitverbreitete antirassistische Haltung, Islamismus und Antisemitismus unter Migranten auf deren rassistische Ausgrenzung zurückzuführen, arbeitet hingegen deren kulturalistischer Fremdmarkierung sogar noch zu, indem die Träger dieser Ideologien nicht als politische Subjekte ernst genommen werden. Ein reflektiert universalistischer Antirassismus ist dagegen in der Lage, Islamisten genauso als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen wie die nichtmigrantischen Rassisten und Antisemiten aus der „Mitte der Gesellschaft“. Aus einem solchen Antirassismus folgt, Islamisten hier politisch zu bekämpfen, aber gleichzeitig auch gegen die Anwendung rassistischer Sondergesetze gegen Islamisten einzuschreiten – etwa wenn sie abgeschoben werden sollen oder bereits Eingebürgerten die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt werden soll.

Es ist überhaupt kein Widerspruch, Islamismus und Antisemitismus unter Migranten zu kritisieren und Rechtsgleichheit für alle Migranten zu fordern – mit und ohne Papiere und selbstverständlich auch für Islamisten. Es ist fast schon grotesk, aber dennoch nötig, über zweihundert Jahre nach der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung daran zu erinnern, daß die Verteidigung der Rechte des Anderen keinesfalls davon abhängig gemacht werden darf, ob man dessen Ideen oder Handlungen sympathisch findet. Ähnliches gilt für die Kritik an der kulturalistischen Ausgrenzung von Migranten mit muslimischem Hintergrund durch den Mainstream: auch sie bedarf keinerlei Zugeständnisse gegenüber Islamisten.

Udo Wolter ist Autor des Buches „Das obskure Objekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung“ (Münster 2001). Er lebt als freier Journalist in Berlin.
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 284.

Anmerkungen:

[1] Katja Diefenbach Anfang Dezember bei einer Veranstaltung zum Mord an Van Gogh in der Berliner Volksbühne.

[2] Anstatt die rassistische Stimmungsmache gegen Muslime und den Mord an Van Gogh zu kritisieren, zeigte die Autorin Sabine Kebir in der Wochenzeitung FREITAG vom 21.1.2005 Verständnis für den Täter. Van Goghs „suggestive(r) Kurzfilm“ Submission könne auf Muslime „äußerst provozierend wirken“. Die Freiheit der Kunst berge „hohe Risiken“, wenn sie als „Kampfmittel gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen“ eingesetzt werde: „Die permanenten Gefühle der Ohnmacht und Scham, mit denen die Marginalisierten leben, lassen auch den Einzelnen zum Gewalttäter werden (…).“

[3] Brigitta Huhnke: Herrinnen der Plantage – zum Rassismus in der feministischen Kopftuchdebatte, ZAG 45, Herbst 2004, S. 22-26

[4] So wurde z.B. die wegen ihrer kompromißlosen Haltung in der Frage des Kopftuchverbotes und gegenüber dem Islamismus bekannte – und sicher auch deshalb in vielen Talkshows und Zeitungsinterviews gern gesehene Gesprächspartnerin – türkisch-deutsche Anwältin Seyran Ates in einem Beitrag auf dem linken „Portal für Gesellschaftskritik“ x-berg.de als „Stammtischrassistin“ beschimpft. Daß Ates seit Jahren türkische Migrantinnen sowohl gegenüber den rassistischen Zumutungen des deutschen Alltags als auch gegen patriarchale Gewalt in ihren Familien juristisch berät und schon einmal bei einem Mordanschlag auf eine Klientin lebensgefährlich verletzt wurde, spielt offenbar keine Rolle.

[5] Bei der mit staatlichen Geldern geförderten antirassistischen Initiative ReachOut geht das sogar soweit, jene ‚Berliner Initiative gegen das Kopftuchverbot‘ zu unterstützen, an der u.a. der der islamistischen Muslimbruderschaft nahestehende Verein INSSAN e.V. und die Organisation Linksruck beteiligt sind, welche offen „antiimperialistische Bündnisse“ mit Islamisten propagiert.

[6] Etienne Balibar: Gibt es einen „Neo-Rassismus“?, in: ders. und Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990, S. 23-38.

[7] Mark Terkessidis, Psychologie des Rassismus, Wiesbaden 1998, S. 179.

[8] Etienne Balibar: „Der antisemitische Komplex – Eine selbstkritische Konzeption des Feindes: Zur Doppelgestalt von Judenhaß und Araberhaß“, FR 25.6.2002.

[9] Ein eklatantes Beispiel für die Delegitimierung der Kritik am Islamismus ist der Beitrag von Walter von Rossum in der Wochenzeitung FREITAG (23.4. 2004): „Tretmine – Der Anti-Islamismus hält sich sehr genau an die Muster des Antisemitismus“.

[10] Mark Terkessidis: Die neue Form des Rassismus – Ein grassierender islamischer Antisemitismus in Europa ist durch Studien nicht belegbar. Doch mittlerweile werden antisemitische Stereotype auf „die Muslime“ übertragen, taz 3.2.2004.

[11] Detlev Claussen: Aspekte der Alltagsreligion, Hannover 2000, S. 143.

[12] Alain Finkielkraut: Im Namen des Anderen. Reflektionen über den kommenden Antisemitismus, in: Rabinovici,/ Speck/ Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a.M. 2004, S. 119-132.