SoFoR-Info 66: Den Stillstand überwinden

Von Fiete Saß

Die relative Stärke des grün-linken Milieus, bereits bei der EU-Wahl 2019 unübersehbar, hält auch bei der Kölner Kommunalwahl 2020 an.

Es wird inzwischen von Grünen, LINKEN, Piraten, Volt, Die PARTEI, Klima-Freunden, GUT und Diem25 bedient, wie Korrelationsanalysen (s. u.) belegen. Sie alle repräsentieren auf die eine oder andere Weise die gesellschaftliche Partei der sozialen und ökologischen Veränderung.

Mit 23,6% der Wahlberechtigten erzielten sie 40 von 91 Sitzen im Rat und Mehrheiten der abgegebenen Stimmen in Ehrenfeld (63%), Nippes, Neustadt-Nord, Sülz, Neuehrenfeld, Neustadt-Süd, Kalk, Mülheim, Altstadt-Süd, Klettenberg und Braunsfeld. Diese elf Stadtteile beherbergen 30% der Wahlberechtigten.

DIE LINKE erzielte hier 47% ihrer Stimmen und konnte per Saldo 633 Stimmen zulegen. Die Ausbreitung des grün-linken Milieus in der Innenstadt, Kalk, Mülheim und den innenstadtnahen Stadtteilen folgt einem ähnlichen Muster wie seinerzeit der Aufstieg der SPD bis in die 70er Jahre.

Während die Medien ihre Mandatsgewinne seit 2014 feiern, haben die schwarz-grün gebundenen Kölner Grünen seit der EU-Wahl vor 16 Monaten 37.000 Stimmen an kleine grün-linke Parteien verloren.

Der Versuch der LINKEN, in das richtig erkannte Vakuum vorzustoßen und sich als Partei des sozialen und ökologischen Politikwechsels zu positionieren, wurde verhalten aufgenommen. Ganz überwiegend fanden die enttäuscht abwandernden Grünen-Wähler*innen bei Volt, Klimafreunden und GUT neue Hoffnungsträger*innen.

DIE PARTEI dagegen verlor 6.000 Stimmen. Piraten und Diem25 traten nicht an.
Das bürgerliche Milieu (CDU und FDP) in Köln brachte keine 14% der Wahlberechtigten mehr an die Urne. Der seit 1957 zu beobachtende Abwärtstrend der CDU hält an, und bei den jüngeren Jahrgängen sieht es auch für die Zukunft düster aus.

Im auf 62% der Wahlberechtigten angewachsenen desorientierten Milieu finden sich vorwiegend in den Außenbezirken Nichtwähler*innen, SPD und AfD mit wechselseitig hohen Korrelationen in den Stimmbezirken. Im Vergleich zum Vorjahr hat die Zahl der Nichtwähler*innen zugenommen. Besonders in den desorientierten und bürgerlichen Milieus der Außen-Stadtteile verlor DIE LINKE Stimmen.

Die SPD konnte sich im Vergleich zum Vorjahr bei 11% der Wahlberechtigten stabilisieren. Ihr langjähriger Abwärtstrend ist ungebrochen, und mit Blick auf das Alter der SPD-Wähler*innen gilt ähnliches wie bei der CDU.

Die AfD hat im Vorjahresvergleich erheblich verloren, weitere Aussicht ungewiss.

Der lange Stillstand in Köln

Die auf das bürgerliche Milieu sich stützenden etablierten Kräfte haben zunehmend Mühe, sich in der Stadtgesellschaft durchzusetzen.

Andererseits hat das inzwischen deutlich zahlreichere grün-linke Milieu auch noch keine durchsetzungsfähige politische Konstellation hervorgebracht. Auf 100 bürgerliche Wähler*innen in Köln kommen 2019 wie 2020 gleichbleibend 174 grün-linke Wähler*innen. Zwischen diesen Polen kann die wachsende desorientierte Mehrheit ihren Platz noch nicht finden und zieht sich sogar weiter in die Nichtwahl zurück.

Schwarz-Grün steht für den Stillstand in der Stadtgesellschaft, von Oberbürgermeisterin Henriette Reker seit 2015 personifiziert. Der Zuspruch, den Frau Reker auch bei den Wähler*innen des grün-linken Milieus bis zur LINKEN erhielt, zeigt, dass es nicht nur um einen strategischen Fehler der Kölner Grünen geht, sondern die Widersprüche der Stadtentwicklung noch weiterer klärender Auseinandersetzung harren.

Diese Einschätzung lässt sich wohl auf die Bundesebene extrapolieren: Die Popularität von Schwarz-Grün steht für Veränderung, bei der möglichst viel bleibt, wie es ist.

Die Bewegungen: Aktionsfeld der gesellschaftlichen Partei der Veränderung

Die gesellschaftliche Partei der sozialen und ökologischen Veränderung artikuliert sich nach 1968 zunehmend in lose vernetzten Bewegungen. Deren Dynamik und Interaktion mit den demokratischen Organisationen älteren Typs wie Gewerkschaften, Verbänden und Parteien und deren Kämpfen ist ein wesentlicher Faktor für fortschrittliche Veränderungen.

Trotz zahlreicher Aktionen und Mobilisierungen blieb die Vernetzung der Bewegungen in Köln bisher unzureichend. Gerade im Wahlkampf gelang es nicht, mit wirklich machtvollen gemeinsamen Auftritten einzugreifen.

Doch wurde eine fordernde Haltung zur Stadtpolitik aufgebaut, die es ermöglichen wird, jede neue Ratsmehrheit herauszufordern. Es gärt, die Netzwerke wachsen, auch der DGB geht auf die Bewegungen zu, und der Kampf um Gegenhegemonie in der Stadt geht in die nächste Runde.

LINKE Rolle und Optionen

Das Wahlergebnis der Kölner LINKEN: OB-Wahl 29.810 Stimmen, Ratswahl 27.044, BV-Wahl 29.240 nach 29.100 bei der EU-Wahl 2019, ist unbefriedigend. Wieso konnte sie nicht von den Verlusten bei Grünen und DIE PARTEI profitieren?

Die Frage ist umso drängender, als die Kölner LINKE mit einem zeitgemäßen sozial-ökologischen Wahlprogramm, guten Slogans, Plakaten und Videos antrat, inhaltlich die wahlentscheidenden Themen ansprach und eine bisher ungekannte Reichweite im Internet erzielte. Das alles hat mit Mühe gereicht, um größere Verluste abzuwenden. Wie das? Ein paar Hypothesen:

  • In für die Wahl wichtigen Themen wie Verkehr und Klima vermitteln andere den Eindruck größerer Lösungskompetenz. In unserer grundsätzlicheren Kritik des Kapitalismus sehen nicht alle einen Beitrag zur konkreten Problemlösung. Zudem ist DIE LINKE eher bundespolitisch profiliert und als Partei der Kümmerer vor Ort vielen noch nicht aufgefallen.
  • Selbst für diejenigen, die sich mittlerweile „Systemfragen“ stellen, sind die „Systemantworten“ der LINKEN eher ungenau. Sozialismus – was genau soll das heute sein und wofür ist das gut, z. B. gegen die Klimakatastrophe?
  • DIE LINKE hadert mit ihrer eigenen Wähler*innenbasis. Gestartet im Widerstand gegen die Agenda 2010 als bessere SPD, lag ihr Schwerpunkt von Anfang an in dem wachsenden grün-linken Milieu, das sich in vielen vormaligen Hochburgen der SPD etabliert hat. Diesen politisch-sozialen Wandel zu verstehen und die Rolle als linker Flügel des grün-linken Parteien-Spektrums anzunehmen, fällt der Partei bisher schwer.

Der erfolgreiche Auftritt anderer Parteien im selben politisch-sozialen Milieu gibt uns kritische Hinweise:

  • Die Konkurrenz ist oft femininer, digitaler und wird von jüngeren Leuten repräsentiert.
  • Die Klimafreunde haben Namen, Positionen und Personal von der Klimabewegung übernommen.
  • Vielen „jungen Europäern“ können Volt und Diem25 mehr bieten.
  • Absurden Spaß und radikale Respektlosigkeit bietet DIE PARTEI.
  • Die Piraten stehen für demokratische Digitalisierung und gegen „geistigen Eigentums“-Extremismus.

Wie kann der lange Stillstand durchbrochen werden?

Entscheidend ist, vom Fordern zum Durchsetzen zu kommen. Wenn es gelingt, im Konflikt mit dem lokalen Establishment die Vorstellungen des grün-linken Milieus von der Zukunft Kölns zunehmend in die Tat umzusetzen, wird dies auch das desorientierte Milieu aufwecken, ähnlich wie im Aufwärtszyklus der SPD in den 70er Jahren.

Die Kölner SPD selber muss sich dann, wenn sie zu einer aktiven Rolle zurückfinden möchte, dafür entscheiden, grün-linke Leitvorstellungen zu akzeptieren, wie es in ihrem Berliner Parteiprogramm von 1989 schon einmal angedeutet war.

Die Rats- und OB-Wahl 2020 hat das Ringen nicht entschieden, aber die Kräfte etwas zugunsten des grün-linken Spektrums verschoben. Daraus ergeben sich erweiterte Handlungsoptionen, um in koordiniertem Vorgehen sowohl im Rat als auch im außerparlamentarischen Raum konkrete Schritte insbesondere für die Klima- und die Verkehrswende zu erstreiten und eine weitergehende Dynamik in Gang zu setzen.

Für DIE LINKE Köln stellt sich die Aufgabe, ihre Vernetzung sowohl mit den neuen wie den alten sozialen Bewegungen zu festigen und sich als deren parlamentarischer Arm zu profilieren, in Kooperation und konstruktiver Konkurrenz mit den anderen Parteien des grün-linken Milieus und dort, wo es möglich ist, auch mit der SPD.

10 Jahre für die sozial-ökologische Transformation – die Zeit läuft!

Das seit 2019 zahlenmäßig, aber noch nicht politisch dominante grün-linke Milieu in Köln signalisiert – soweit dies lokale Entwicklungen in Köln vermögen – den Eintritt in eine neue Phase des politischen Zyklus.

In den nächsten 10 Jahren muss der Einstieg in die sozial-ökologische Transformation erstritten werden, nicht nur in Köln, sondern überall.

Der Kampf um Gegenhegemonie in der Stadt und den lokalen Einstieg in die Transformation ist dabei ein wesentliches Element. Das ist jetzt die Herausforderung für linke Politik in der Stadtgesellschaft.

Die Matrix 2020 zeigt die Koeffizienten für die Korrelation der Stimmen für die Ratskandidat*innen der Parteien sowie für deren Korrelation mit Kandidaturen für die OB-Wahl, alles auf Stimmbezirksebene. Der Nichtwähler*innenanteil („NW schätz“) wurde per Durchschnittsanteil bei der Briefwahl geschätzt. Die drei politischen Milieus in Köln wurden durch Korrelationsanalysen auf Basis der Stimmbezirksergebnisse bei den Wahlen seit 2014 ermittelt. Alle Daten stammen aus Veröffentlichungen von Wahlergebnissen der Stadt Köln bzw. darauf beruhenden eigenen Berechnungen.


Hier befindet sich die pdf-Datei des SoFoR-Infos 66 / 2020.