Lucas Zeise: In welchem Kapitalismus leben wir – oder: Der Finanzsektor in der neoliberalen Ausprägung des Stamokap

Nicht wenige Linke und sogar nicht wenige, die sich Marxisten nennen, vertreten die Ansicht, die 2007 begonnene Finanz- und globale Wirtschaftskrise fordere uns ganz besondere theoretische Anstrengungen ab, um den Kapitalismus zu erklären. Mir scheint, dass Anstrengungen, um diese sonderbare und immer noch aktuelle Produktionsweise zu erklären, immer angebracht sind. Die große Krise, mit der wir es hier zu tun haben, ist aber eigentlich die leichteste Übung. Erklärt werden muss meiner Meinung weniger, wie es zu einer solch massiven Störung des kapitalistischen Wirkungszusammenhangs kommen konnte, sondern viel eher, weshalb diese große Krise so lange auf sich hat warten lassen.

Eine stinknormale und dennoch besondere Krise

Denn auch diese Krise ist eine stinknormale, für den Kapitalismus übliche Überproduktionskrise. Sie ist Resultat des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, der für den Kapitalismus typisch ist. Der Grundwiderspruch ist dynamisch. Will man seine Dynamik ausdrücken, spricht man von der Tendenz zu immer stärkerer Vergesellschaftung der Produktion, besser der Arbeit einerseits und andererseits der Tendenz zu immer rüder und umfassender werdenden privaten Aneignung. Dieser Widerspruch drückt sich im Regelfall in kapitalistischen Konjunkturkrisen aus. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass das ungebändigte Wachstum von Kapital und Waren nicht auf genügend kaufkräftige Nachfrage trifft. Die private Aneignung des Mehrprodukts durch die Kapitalisten, lässt den gesellschaftlichen Produzenten nicht genügend Wert=Geld, um die munter produzierten Waren zu kaufen. Kapitalistische Krisen sind also Absatz- oder Realisierungskrisen.

Viel spricht dafür, dass es sich bei der aktuellen Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht nur um eine der einigermaßen regelmäßigen Konjunkturkrisen oder Rezessionen handelt. Denn zum einen erfasst diese Krise den ganzen Globus. Zwar sind die Länder und Regionen in unterschiedlichem Maß, doch ist dies keine regionale sondern tatsächliche eine weltweite Krise. Zum anderen hat die Krise in den imperialistischen Hauptländern Europas, Nordamerikas und Japan den stärksten Einbruch von Produktion und Bruttosozialprodukt seit dem II. Weltkrieg hervorgerufen. Es handelt sich also um eine außergewöhnlich tiefe Krise. Sie beeinträchtigt zudem in ganz besonderer Weise das führende imperialistische Land, die USA, und gefährdet seine Vorherrschaft.

Die Krise ist damit historisch vergleichbar mit der großen Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die 1929 ebenfalls mit einem Finanz-Crash begann, und mit der schwerwiegenden Krise der 70er Jahre, die ebenfalls durch eine tiefe Rezession gekennzeichnet war, alle kapitalistischen Länder erfasste und die Phase fester Wechselkurse sowie Prosperitätsperiode der Nachkriegszeit beendete. Die aktuelle Krise dürfte in diesem Sinne eine Umbruchkrise der Weltwirtschaft bedeuten. Sie beendet diejenige Phase eines wirtschaftspolitischen Regimes, das wir uns angewöhnt haben als neoliberal zu bezeichnen. Anders ausgedrückt macht diese Krise deutlich, dass das neoliberale Modell nicht mehr funktioniert.

Marxisten und andere kluge Ökonomen hatten eine solche Krise schon viel früher erwartet. Wenn man den Neoliberalismus seinem eigenen Programm gemäß als Regime begreift, das die Profitrate im jeweils eigenen imperialistischen Lager auf direktem Wege über die Steigerung der Mehrwert- oder Ausbeutungsrate, also durch ganz gemeinen Lohndruck zu erhöhen versucht, müsste der oben skizzierte Widerspruch zwischen hohen Profiten und hohen Investitionen einerseits und zurückbleibenden Lohneinkommen andererseits die typische Überproduktionskrise noch schneller als ohnehin zum Ausbruch bringen.

Drei wichtige Entwicklungen im Kapitalismus der letzten dreißig Jahre haben den Ausbruch einer solchen großen Überproduktionskrise verhindert:

  • die technische Revolution der Mikroelektronik/Informationstechnik hat die Profite gesteigert und einen neuen Investitionszyklus eröffnet, der die Profite absorbieren konnte
  • die Niederlage des Sozialismus in Europa und der SU sowie die Einbeziehung Chinas  in den Kapitalismus hat viele Millionen, nein fast zwei Milliarden Menschen in das System der Mehrwertproduktion neu einbezogen.
  • drittens entwickelte das neoliberale Regime einen enorm aufgeblähten Finanzsektor, der die Profitmassen absorbierte, von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen erschloss und zugleich durch die Verschuldung nicht nur der Kapitalisten und des Staates sondern auch vorübergehend die Kaufkraft der Lohnabhängigen erhöhte und so die eigentlich fällige Überproduktionskrise verzögerte.

Die überproportionale Ausweitung des Finanzsektors ist ein wesentliches Kennzeichen des Neoliberalismus. Es ist deshalb nicht falsch, wenn man diese Periode, die mit der Krise der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einsetzt und deren Ende von der aktuellen Krise eingeläutet wird, als von einem „finanzmarktgetriebenen“ Kapitalismus zu sprechen. Der Finanzsektor spielt in diesem System in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sein ungeheures Wachstum ist einerseits Resultat der beschleunigten Umverteilung des erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Zugleich dient der Finanzsektor als wichtiger Hebel, um diese Umverteilung von Arm nach Reich zu beschleunigen.

Der Finanzsektor ist zugleich der entscheidende Ort, über den der im gesamten System anfallende Profit umverteilt wird. Dabei gilt der einfache, ausnahmsweise für das Einzelkapital und das Gesamtkapital der Volkswirtschaft gleichermaßen gültige Satz: Je höher das Fremdkapital, ein desto höherer Anteil am Profit geht an die Bank. Je höher also der Anteil des Geld- oder Finanzkapitals am Gesamtkapital in einer Volkswirtschaft, desto höher auch der Anteil des Profits, der im Finanzsektor anfällt.

Das ist zwar ebenso wahr wie einleuchtend. Dennoch bleiben Rätsel. Das erste ist das Rätsel der dauerhaft hohen Gewinne im Finanzsektor. Das zweite besteht darin, warum das Industriekapital das Wuchern des Finanzsektors zulässt. Seine schier grenzenlose Expansion gefährdet, wie die Finanzkrise ausweist, nicht nur das Gesamtsystem, sie beschneidet auch die Profitabilität des nicht im Finanzsektor tätigen Kapitals.

Das Rätsel der hohen Gewinne

Das Rätsel selbst in einfach formuliert.  In jedem Wirtschaftsmodell, ob klassisch, neoklassisch oder neokeynesianisch, findet ein Ausgleich der Profitraten statt. Bei Marx heißt der Prozess explizit auch so. Nur über eine solche Anpassung der Gewinnraten verschiedener und verschieden profitabler Branchen kommt der Preismechanismus im Gesamtsystem zur Geltung. Die Anpassung der hohen Profitraten nach unten und der niedrigen nach oben vollzieht sich über den Kapitalmarkt. Kapital strömt von wenig profitablen Branchen in hochprofitable. Die beschleunigte Akkumulation in letzteren führt dort zu höherer Produktion, zu sinkenden Preisen und damit zu geringeren Profiten.

Tatsache ist aber, dass der Finanzsektor sich über drei Jahrzehnte lang diesem Ausgleichmechanismus entzogen hat. Zwar saugte die Finanzbranche Kapital aus anderen Wirtschaftszweigen ab, zwar war die Akkumulationsrate im Finanzsektor höher als in der übrigen Wirtschaft, dennoch blieben die Gewinne per Saldo in diesen 30 Jahren hoch. Das Ergebnis war: der Anteil des Finanzsektors an den gesamten Unternehmergewinnen ist in den USA seit Ende des 2. Weltkriegs von ca. 10 auf vor der Krise ca. 40 Prozent gestiegen. In Deutschland machten 2008 die Gewinne der Banken allein nicht weniger als 18,5 Prozent der Gewinne aller Kapitalgesellschaften aus.

Die einfache und zunächst etwas grobe Erklärung für das Rätsel bietet die Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, kurz Stamokap genannt. Diese Theorie liefert zwar nicht speziell eine plausible Erklärung über das Verhältnis des Finanzsektors zur übrigen Gesellschaft, wohl aber eine Erklärung, auf welche Weise das Großkapital (oder eben das monopolistische Kapital) generell mehr als nur den aliquoten Anteil am Profit auf sich ziehen kann. In den USA wird über diesen Präferenzstatus einer Darstellung des Journalisten und Schriftstellers Matt Taibbi und vieler anderer folgend unter dem Begriff „regulatory capture (regulatorische Geiselnahme)“ diskutiert. Das soll heißen, an den entscheidenden Stellen verfügt die Hochfinanz über den Hebel, um die ökonomische Regulierung durch den Staat zu ihren Gunsten ablaufen zu lassen. Die Stamokap-Theorie besagt – etwas vereinfacht –, dass massive, ökonomische und systematische Eingriffe des Staates die erhöhte Rendite des monopolistischen (= machtvollen) Kapitals erst gewährleisten oder herstellen. Es findet eine vom Staat organisierte Umverteilung der Gewinne zugunsten der besonders großen und mächtigen Kapitalgruppen statt. Die Vertreter dieser Theorie hatten dabei Firmen wie Siemens und sein Quasi-Liefer-Monopol für die Telefonanlagen der Post oder die hohen Zuwendungen des Staates an die Atomindustrie und Ähnliches im Sinn. Heute wirkt die Rettungsaktion für die deutschen Banken vom Herbst 2008 in Höhe von 480 Mrd. Euro, die von den Bankern und ihrem Verband ausgestaltet wurde, wie die klassische und zugleich spektakuläre Illustration der Stamokap-Theorie. Nur dass die Staatseingriffe in diesem Fall nicht irgendwelchen Monopolen, sondern speziell den Bankmonopolen oder besser Finanzmonopolen zugutekamen. Wer heute noch an der grundsätzlichen Richtigkeit dieser Theorie zweifelt, muss einfach blind sein. 

Die Antwort, der Stamokap-Staat sorge systematisch für eine Aufplusterung der Gewinne der großen und mächtigen Kapitalgruppen, hat allgemeinen Erklärungswert. Aber sie ist für das hier zu lösende Problem noch zu allgemein und unsystematisch. Sie erklärt den Vorgang der dauerhaft hohen Gewinne im Finanzsektor mit den Eingriffen des regulatorischen Staates und der engen Kooperation zwischen Finanzsektor und Staat. Sie erklärt noch nicht, welche Mechanismen im Zusammenwirken von Staat, Banken, Versicherungen und Fonds wirksam werden, die den Finanzsektor dauerhaft und daher systematisch in die Lage versetzen, einen großen Teil der in der Volkswirtschaft anfallenden Gewinne auf sich umzuleiten.

Es gibt im Wesentlichen zwei Mechanismen, die zusammengenommen die dauerhaft hohen Gewinne des Finanzsektors hinreichend erklären. Das eine ist die schrankenlose Kreditausweitung. Sie ist nur dann schrankenlos, wenn wie unter den Bedingungen des neoliberalen Deregulierungsmodells der Staat der Kreditausweitung keine Grenzen setzt. Der zweite Mechanismus ist die Spekulation, die vom Staat gestattet oder besser gefördert, den Finanzsektor zur Wundermaschine macht und Gewinne erscheinen lässt, die nicht der Mehrwertproduktion entstammen.

Geld im kapitalistischen Staat

Geld nimmt im Kapitalismus eine zentrale, die Kapitalien und Märkte verbindende Funktion ein. Geld verbindet die Märkte für Arbeitskraft, für Güter und Dienstleistungen und für Kapital selbst miteinander. Es ist damit nicht nur das entscheidende Bindeglied innerhalb einer (nationalen) Bourgeoisie. Geld bindet über den Marktaustausch von Waren und Arbeitskraft auch das Proletariat (als Arbeitskraftverkäufer und Konsument) und andere Schichten der Gesellschaft an die Bourgeoisie – an das Kapital – und stellt damit die Vergesellschaftung der Arbeit zu einer "Volkswirtschaft" her. Wegen dieser zentralen Rolle im gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozess ist Geld auch aufs Engste mit der Sphäre des Juristischen, der außerökonomischen Machtausübung, dem Staat verbunden. Ganz wesentlich über die gesellschaftliche Institution des Geldes wird schließlich die Regulierung und institutionelle Absicherung des klassenübergreifenden Marktgeschehens abgesichert. Geld ist in kapitalistischen (aber auch den meisten vorkapitalistischen) Gesellschaften eine vom Staat garantierte, oder zumindest mit staatlicher Autorität versehene Institution.

So nimmt es denn nicht Wunder, dass das Finanzkapital noch enger durch Regulierungsfunktionen mit dem Staat verbunden ist als andere Kapitalien. Nicht nur ist fast überall die Notenbank eine staatliche Institution. In vielen kapitalistischen Staaten (beispielsweise Deutschland) ist auch der Geschäftsbankenbereich in  höherem Maß staatliches Eigentum als andere Branchen. Die (staatliche) Regulierungsdichte ist bei Banken, Versicherungen, Wertpapierhäusern, Vermögensverwaltern höher als in Handel oder Industrie. Die zentrale Stellung gerade der Banken innerhalb des Gesamtkapitals wird auch daran deutlich, dass eine fallierende Bank im Regelfall staatlich aufgefangen wird, ein fallierender Industriekonzern aber nur nach Gusto oder besser nach den jeweils aktuellen politischen Umständen. Auch unterhalb staatlicher Aktivität nehmen das Finanzkapital und das Geld eine zentrale Rolle ein. Der für das Wirken des Profitprinzips auf Basis des Wertgesetzes entscheidende Ausgleich der Profitraten findet durch Kapitalströme in Geldform statt. Konkret läuft der Vorgang über die Kreditentscheidungen der Banken, sowie den Kauf- und Verkauf von Wertpapieren. Während die Garantie und bis zu einem gewissen Grad auch die Regulierung dieser Eigentumstitel (einschließlich des Geldes im engeren Sinne) staatlich erfolgt, steuern sich im Finanzsektor die tatsächlichen Kapitalströme weitgehend selbst.

Die Finanzverfassung eines Landes, d. h. die Organisationsform, in der der nationale Geld- und Kapitalverkehr abgewickelt werden, gehört zum Kern dessen, was man als Nation bezeichnet. Es ist die Form, mittels derer sich Kapitalgruppen als zusammengehörig und abgegrenzten Spielregeln zugehörig verhalten. Diese Organisationsform bietet Schutz nach außen und setzt gleichzeitig ein Konkurrenzverhältnis zu anderen, ausländischen Kapitalgruppen. Die Geldverfassung, die eigene Währung ist dabei der umfassendste Ausdruck für nationale Souveränität. Mit Recht ist deshalb gesagt worden, die Währungsreform 1948 sei die Geburtsstunde der damals sich konstituierenden westdeutschen Nation gewesen, die sich dank der damit verbundenen restaurierten Eigentumsverhältnisse zugleich als Fortsetzung der alten deutschen Nation begreifen konnte. Das eigene Geld bindet nicht nur den Kapitalmarkt zusammen, sondern bindet als Formelement auch die anderen Klassen an die jeweilige Kapitalherrschaft zur dann klassenübergreifenden Nation. Welche Bedeutung das Geld und die Währungshoheit für die Nationenwerdung hat, konnte man 1989/1990 beobachten. Die Erweiterung des Währungsgebietes D-Mark war der entscheidende, von allen Klassen materiell erlebte Übergang von der sozialistischen zur kapitalistischen nationalen Ordnung. Als die Entscheidung im Februar 1990 gefallen war, die D-Mark in der DDR einzuführen, hatte die damalige DDR-Regierung keine eigene Perspektive und keine alternativen Handlungsoptionen mehr als den Beitritt zur BRD. 

Die Analogie mit der Einführung des Euro drängt sich auf, funktioniert aber nur bedingt. Denn der Euro war keine Währungsreform, sondern hat bestehende Währungen, die an der D-Mark als Leitwährung hingen, zusammengefasst. Die neu geordnete Währungsordnung hat jedoch wichtige Elemente, die gemeinhin nur Nationen eigen sind: Es gilt ein homogener oder homogener werdender Gütermarkt, Arbeitsmarkt und Kapitalmarkt. Das Kapital hat sich bindende Regeln geschaffen und ordnet sich ihnen weitgehend unter. All das fördert die gemeinsame Definition zunächst verschiedener Kapitalinteressen – vis-à-vis anderen Nationen und in der Auseinandersetzung mit anderen Klassen. Es ermöglicht und erfordert eigentlich auch eine gemeinsame staatliche  Wirtschaftspolitik. Dass es dazu wegen des deutschen Widerstandes nicht kam, wurde bereits erwähnt.

Die europäische Währungsunion ist ein Projekt des europäischen Kapitals. Dieser Satz wirkt wie eine Tautologie. Er impliziert, dass es ein europäisches Kapital gibt, das zu derart einheitlicher Handlungsweise zur Verbesserung der eigenen Verwertungsbedingungen fähig ist.  Die Wirklichkeit sieht komplizierter aus. Der Euro ist auch ein Kompromiss, der sich aus verschiedenen Interessenlagen ergab. Für warenexportierendes Kapital (in bisherigen vor allem von Aufwertung bedrohten Ländern wie Deutschland) entfällt durch die einheitliche Währung die reale Möglichkeit, dass Währungskrisen ganze Absatzmärkte wegbrechen lassen. Auf der anderen Seite wird für diejenigen, die bisher in einem Schwachwährungsgebiet angesiedelt waren, die Finanzierung billiger. Die Währungsunion ist somit ein Projekt, das verschiedenen Kapitalinteressen aus unterschiedlichen Gründen nutzt. Es fußte auf einem Interessenausgleich. Das deutsche Kapital reichte den Vorteil einer starken Währung, die sich mit niedrigen Zinsen behaupten kann, an den Rest Europas weiter. Es kaufte sich dadurch größere Sicherheit auf allen europäischen Absatzmärkten ein.

Dass dieser Interessenausgleich von einer, der deutschen Seite nicht honoriert wurde, ist im Frühjahr 2010 deutlich geworden. Die Euro-Verträge waren unter dem Diktat der deutschen Seite so konstruiert worden, dass gesamtstaatliches Handeln und ein gesamtstaatlicher Finanzausgleich ausgeschlossen wurden. Unter der Belastung durch die Finanzkrise, als die Möglichkeit der Staatspleite für die schwächeren Euroländer am Horizont auftauchte, erwies sich das Fehlen der staatlichen Handlungsfähigkeit als krasser Fehler. Mit Notfallgarantien und allerlei Ad-hoc-Maßnahmen versuchten die Euro-Regierungen, dieses Fehlen zu überbrücken. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Regierungen der großen Euroländer einen offensiven Plan haben, um die Währungsunion zu stabilisieren. Unter diesen Umständen hat der Euro keine Zukunft.

Das vom Kapital eines Währungsraumes so geschätzte und schwer zu erreichende niedrige Zinsniveau hängt, wie oben gezeigt, vom Auf- oder Abwertungsverdacht ab, den die Akteure gegenüber der Währung hegen. Es kommt aber noch ein zweites Moment hinzu. Es ist der Staatshaushalt oder eher die Solidität der Finanzen des diese Währung tragenden Staates. Dieser Gesichtspunkt kommt deswegen ins Spiel, weil der die Währung emittierende Staat als Schuldner im entsprechenden Währungsraum die beste Adresse ist und deshalb in diesem Währungsgebiet die niedrigsten Zinsen zahlen muss. In der Währung Dollar bietet das Washingtoner Finanzministerium als Emittent die niedrigsten Zinsen. In Pfund ist es die Regierung Ihrer Majestät, die am wenigsten Zinsen bieten muss und ähnlich in allen Währungen der Welt. Komplizierter ist es im Euro-Währungsraum, weil dort sechzehn Staaten über eine gemeinsame Zentralbank die Währung Euro emittieren. Banken und Unternehmen, Stiftungen, Sondereinrichtungen der Öffentlichen Hand, alles was Schulden machen kann,  muss immer mehr Zinsen zahlen als der Staat selber. Das Kalkül dabei ist einfach. Man kann davon ausgehen, dass der Staat, welcher die Währung emittiert, weniger schnell Pleite geht als die Einzelschuldner in diesem Währungsgebiet. 

Was in Krisenzeiten deutlich wird

In Krisenzeiten wird deutlicher, was auch in schönen, neoliberalen Vorkrisenzeiten selbstverständlicher Standard ist. Der Finanzsektor ist die vom Staat am meisten abhängige Branche, abhängiger noch als der Rüstungssektor. Das ist deswegen unmittelbar einsichtig, weil der Finanzsektor mit Geld, staatlich garantierten Eigentumskontrakten handelt. Der Finanzsektor ist Kapital in Geldform, er besteht praktisch aus diesen staatlich garantierten Verträgen. Die Abhängigkeit wird zum Beispiel in Nichtkrisenzeiten überdeutlich, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Finanzmarktförderungsgesetze ansieht, die Punkt für Punkt das jeweils artikulierte Bedürfnis der Akteure befriedigten. Ohne solche Gesetze hätten die Banker zum Beispiel die Termingeschäfte, die sie nun einmal machen wollten, gar nicht erst eingehen können. Die Abhängigkeit ist vollkommen einseitig. Ohne Regelungen durch den Staat funktionieren der Finanzsektor und der Finanzmarkt nicht. Der Staat ist umgekehrt kein bisschen auf diese neuen Geschäfte angewiesen. Wären die Finanzmarktförderungsgesetze unterblieben, hätte sich der Finanzsektor in Deutschland möglicherweise weniger stürmisch entwickelt. Aber ansonsten wäre nichts Negatives geschehen.  Das sonderbare Resultat dieser intimen Abhängigkeit des Finanzsektors von staatlichem Handeln ist der unabweisbare Eindruck, dass staatliches Handeln sich  jeder Laune des Finanzsektors anpasst. Es ist wie beim Säugling, dessen Überleben und Gedeihen komplett von seiner Mutter abhängt und der es gerade deshalb erreicht, dass sie jeden seiner Wünsche zu befriedigen sucht.

Nicht ganz vergessen sollte man dabei, dass die Intimität zwischen Staat und Finanzsektor auch mit der Gefahr zu tun hat, die von letzterem ausgeht. Weil der Markt ohne staatliches Eingreifen die Kreditvergabe nicht autonom begrenzt, weil das Industriekapital aber kein Interesse daran hat, dass immer größere Teile des Profits in Richtung Bankkapital abwandern, haben kapitalistische Staaten in der Regel politische Maßnahmen ergriffen, um diese Grenzen zu schaffen. Es ging dabei auch darum, solche Krisen, wie wir sie gerade erleben, nicht allzu häufig werden zu lassen. Finanzkrisen dieses globalen Ausmaßes sind selten. Die staatlichen Regelungen gegen eine schrankenlose Kreditausweitung zielen deshalb auch darauf, es im eigenen Land nicht zu derartigen Krisen kommen zu lassen, die  für alle Bürger unangenehme, für die Kapitalisten profitsenkende Folgen haben. Deshalb wurde die Zentralbank in den meisten Ländern verstaatlicht, wurden in vielen Ländern auch die Geschäftsbanken unter staatlicher Regie gehalten. Den Banken wurden Mindestreserven verordnet, sie wurden, wie auch die Versicherungen, einer relativ strengen Aufsicht und einer eigenen Gesetzgebung unterworfen. Schließlich wurde das Volumen der Kreditvergabe an die Menge des von der Bank aufgebrachten Eigenkapitals geknüpft. Letzteres wurde mit der Basler Übereinkunft sogar zum Standard im Weltkapitalismus. Die Regulierungsdichte, mit der der kapitalistische Staat den Finanzsektor umrankt und regelt, hat auch mit der berechtigten Angst zu tun, dass sich der niedliche Säugling zum Monster entwickeln könnte.