Ein „Triumph gescheiterter Ideen“: Das deutsche Geschäftsmodell in der europäischen Krise

Von Steffen Lehndorff, Sozialforscher am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen.

 

Seit einigen Monaten ist in den Zeitungen zu lesen, bei der Eurokrise gebe es Licht am Ende des Tunnels. Doch der Blick in die sogenannten Peripherie-Länder zeigt, dass der Tunnel eher länger wird. Auch wenn es teilweise wieder (eher geringes) wirtschaftliches Wachstum gibt – die seit Jahren andauernde tiefe Depression hat vor allem in einigen südeuropäischen Ländern bereits unvorstellbare soziale Verwüstungen und Flurschäden angerichtet.

Wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat die Krisenpolitik der EU-Kommission, die seit 2010 nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Bundesregierungen (unterschied­licher Couleur) betrieben wird. Die „deutschen Interessen“, mit denen dies gerechtfertigt wird, sind jedoch nicht die Interessen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Die Fiskaldiktatur

Seit dem offenen Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2008 lässt sich mit dem Satz „Der Markt regelt alles am besten“ nur noch auf Umwegen Politik begründen. Der wichtigste dieser Umwege hat einen Namen: „Staatsverschuldung“.

Die Regierenden haben den Abbau der Staatsschulden durch die Kürzung von Staatsausgaben zum Dreh- und Angelpunkt der Krisenbekämpfung erklärt. Doch die Staatsschulden sind ja in Folge der Krise in die Höhe geschossen: zum einen durch die Konjunkturprogramme und die steigenden Sozialausgaben, zum anderen – und dies in erheblich größerem Umfang – durch die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bankenrettung. Wenn aber die Folge zur Ursache erklärt wird, erklärt man das Opfer zum Täter.

Die Interpretation der Wirtschafts- und Finanzkrise und der Krise der Eurozone als „Staatsschuldenkrise“ ist heute der entscheidende Rettungsanker des Neoliberalismus in Europa. So gelingt das, was der US-amerikanische Ökonom Paul Krugman mit Blick auf die USA einmal als „den seltsamen Triumph gescheiterter Ideen“ bezeichnet hat: „Die Fundamentalisten des freien Marktes haben sich in allem geirrt – doch sie dominieren die politische Szene gründlicher als jemals zuvor.“ In der EU ist der deutlichste Ausdruck dieses Triumphs die Errichtung einer Art Fiskaldiktatur, die mit der Notwendigkeit legitimiert wird, „das Vertrauen der Märkte wieder zu gewinnen“.

In der neuen Wirtschaftssteuerung der EU spielt die Bekämpfung von Haushaltsdefiziten und Staatsschulden der Mitgliedsländer eine Schlüsselrolle. Länder, die Finanzhilfen für die Bewältigung akuter Haushaltskrisen bekommen, werden auf Kürzungsprogramme regelrecht verpflichtet. Einige dieser Länder (wie Griechenland) stehen dabei unter der Kuratel der „Troika“ aus EU-Kommis­sion, EZB und Internationalem Währungsfonds.

Diese „Konsolidierungsprogramme“ werden mit so genannten „Struktur­reformen“ verknüpft, bei denen zwar kein direkter Bezug zu den Staatsschulden erkennbar ist, deren Inangriffnahme jedoch zur Bedingung für Kredite aus den Rettungsfonds gemacht wird. Ihr erklärter Zweck ist die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und damit ebenfalls die Stärkung des „Vertrauens der Märkte“. So enthalten die seit dem Sommer 2010 beschlossenen „Reformprogramme“ in Spanien neben diversen Kürzungen im Staatshaushalt und im Sozialsystem, einschließlich der Übernahme des deutschen Exportschlagers „Rente mit 67“, solche Maßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes durch Ausschaltung der Konsultation mit dem Betriebsrat, den Vorrang von Firmen-Tarifver-trägen vor Flächentarifverträgen, die Aufgabe der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sowie das Einfrieren des gesetzlichen Mindestlohns in der Privatwirtschaft. In Griechenland wurde sogar der Mindestlohn in der Privatwirtschaft um 22% gesenkt.

Dieser Kurs hinterlässt langfristig nachwirkende Flurschäden auf den Arbeitsmärkten, im Sozialgefüge und in den Interessenvertretungsstrukturen. Und in dem Maße, wie die Volkswirtschaften kurz- bis mittelfristig noch tiefer in die Krise getrieben werden, nehmen die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP trotz abnehmenden Haushaltsdefizits sogar weiter zu und nicht ab. Sicher dürfte nur eines sein: Der Bumerang, der auch aus Berlin auf diese Länder geworfen wurde, wird über kurz oder lang vielen Arbeitnehmer/innen in Deutschland auf die Füße fallen.

Kein Zweifel: In den betroffenen Ländern – und nicht nur dort – liegt vieles ganz erheblich im Argen. Doch „Strukturreformen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ wie die soeben genannten haben nicht das Geringste mit dem tatsächlich vorhandenen Reformbedarf zu tun. Das kann man schon daran erkennen, dass es in jedem dieser Länder ganz spezifische Fehlentwicklungen waren, die der Krise den Boden bereiteten. (…) Das völlig auf das Anziehen von ausländischen Direktinvestitionen und Schattenbanken fokussierte Modell Irlands; der – ebenso wie in Irland – mit hoher privater Verschuldung einhergehende und zudem die Umwelt zerstörende Immobilienboom in Spanien; eine extrem schwache Steuerbasis in Griechenland bei gleichzeitiger Abwesenheit irgend eines wirtschaftlichen Entwicklungskonzepts; und in Italien eine „wachstumsbehindernde Vetternwirtschaft, Korruption und bürokratische Ineffizienz“ zusammen mit dem Fehlen jeglicher Industriepolitik und einer ausgeprägt starken Kombination von „Steuervermei-dung, Steuerflucht und Steuersenkungen“.

Aber was häufig übersehen wird: Die andere Seite derselben Medaille waren die Fehlentwicklungen im deutschen Wirtschafts- und Sozialmodell.

Das deutsche Geschäftsmodell

Die deutsche Wirtschaft ist die größte Europas, aber sie ist über die Maßen vom Export abhängig. Diese Schlagseite wird zwar seit einiger Zeit kritisiert (sogar – wenn auch sehr vorsichtig und ohne Konsequenzen – von der EU-Kommis-sion), doch ist nicht immer klar, was da genau kritisiert wird. Die Exporterfolge der deutschen Industrie haben ihre stärksten Fundamente in der hohen Spezialisierung und Produktqualität, der Serviceorientierung der Unternehmen und der Flexibilität und Qualifikation der Beschäftigten. Es würde sicher niemandem dienen, diese weltweit anerkannten Stärken außer Kraft zu setzen. Nach einer Phase des Leistungsbilanzdefizits in den 1990er Jahren, das mit der Umorientierung der westdeutschen Industrie auf die Befriedigung der ostdeutschen Konsumentennachfrage bei zugleich weitgehender Stilllegung der ostdeutschen Industrie zusammenhing, wurde das Exportmodell in den 2000ern reaktiviert. Innerhalb der neu geschaffenen Eurozone wurde es jedoch zu einem großen Problem, weil die produktbezogenen Stärken jetzt erstmals in diesem Ausmaß durch eine Senkung der Lohnstückkosten im Verhältnis zu den übrigen EU-Ländern ergänzt wurden. Von 2000 bis 2010 gingen die durchschnittlichen Reallöhne pro Kopf in Deutschland um 4% zurück, während die Arbeitsproduktivität ungefähr im EU-Durchschnitt anstieg.

Diese von neoliberalen Ökonomen als „Lohnmäßigung“ gerühmte Besonderheit, dass in einer wirtschaftlichen Wachstumsphase die durchschnittlichen Löhne sanken, war wesentlich auf die Ausbreitung des Niedriglohnsektors zurückzuführen. Dahinter stecken vor allem die in den zurückliegenden zehn bis 15 Jahren durchgesetzten Strukturbrüche auf dem deutschen Arbeitsmarkt: Wenige Jahre nach der Einführung der gemeinsamen Währung wurde er mit Hilfe der „Agenda 2010“ umgekrempelt. Verschiedenste „Arbeitsmarkt-reformen“ öffneten die Schleusen zu einem Boom von Leiharbeit und Minijobs. Die sogen. Hartz-Gesetze zwangen die Arbeitssuchenden, Jobs auch zu sehr schlechten Bedingungen anzunehmen. Das Tarifvertragssystem, das ohnehin bereits seit den 1990er Jahren durch abnehmende Mitgliederzahlen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften geschwächt war, verlor durch politischen Druck zusätzlich an Einfluss auf die Entwicklung der tatsächlichen Einkommen. Große Bedeutung hatten auch wirtschaftliche Umstrukturierungen wie Outsourcing und Standortkonkurrenz in der Industrie sowie vor allem die Privatisierungen zuvor öffentlicher Dienstleistungen, durch die große Bereiche mit einstmals geschützten Beschäftigungsverhältnissen in einen Sog der Entstandardisierung und Lohnkonkurrenz gerieten. All dies zog die durchschnittlichen Löhne nach unten. Gleichzeitig wurden durch Steuerreformen hohe Einkommen und Gewinne erheblich entlastet.

Dadurch passierten zwei Dinge gleichzeitig: Ein Teil der Exportwirtschaft konnte die preisliche Wettbewerbsfähigkeit enorm steigern und damit Konkurrenten aus anderen Ländern vom Markt verdrängen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die fleischverarbeitende Industrie. Andere Branchen dagegen wie der Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau konkurrieren nicht primär über den Preis. Dort entstand ein relativer Preisvorteil dadurch, dass die Exportpreise anderer Länder im Euroraum stiegen. Lohnstückkostenvorteile, die nicht als sinkende Preise weitergegeben werden, erhöhen aber die Gewinne.

Während in den zurückliegenden Jahrzehnten der Wechselkurs-Anpassungsmechanismus bei derartigen Entwicklungen einen gelegentlichen Ausgleich zugunsten schwächerer Volkswirtschaften ermöglicht hatte, waren nun mit der Währungsunion immerhin zwei Fünftel des deutschen Außenhandels von dieser Last befreit. Das deutsche Geschäftsmodell konnte jetzt in einer erweiterten D-Mark-Zone so aufblühen, wie es seit den Verträgen über die Europäische Währungsunion in den 90er Jahren angestrebt war. Beeindruckendster Ausdruck dieses fragwürdigen Erfolgs war der dramatische Anstieg der Leistungsbilanzüberschüsse wenige Jahre nach der Einführung des Euro.

Diese Fehlentwicklung hatte wiederum zwei weitere Folgen, die der Krise den Boden bereiteten und die immer noch nicht aus der Welt geschafft sind.

Die erste war die Stagnation des deutschen Binnenmarkts. Damit reduzierten sich die Exportmöglichkeiten anderer Länder in die größte europäische Volkswirtschaft. Das binnenwirtschaftliche Ungleichgewicht in Deutschland wurde zur wichtigsten Quelle der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die auch weiterhin wie ein Bleigewicht an der Eurozone hängen. Die Kritik, Deutschland exportiere zu viel, verstellt deshalb eher den Blick auf die eigentlich entscheidende andere Seite derselben Medaille: Deutschland importiert zu wenig.

Die zweite Folge des neuen deutschen Modells hing mit der massiven Umverteilung zugunsten von Gewinnen und Kapitaleinkommen zusammen: Für das in Deutschland nicht profitabel investierbare Geldkapital mussten Einsatzfelder im Ausland gesucht werden. Und sie wurden auch gefunden: In der boomenden Finanzmarktblase spielten deutsche Gewinne und Vermögenseinkommen eine wichtige Rolle. Zahlreiche Deregulierungen des Finanzsektors seit Ende der 1990er Jahre hatten die Türen dafür weit geöffnet. Deutsche Banken und andere Anleger gehörten zu den größten ausländischen Kreditgebern sowohl der Immobilienblase in den USA als auch der schuldenbasierten Booms in Ländern wie Griechenland, Irland oder Spanien.

Es war also eine Symbiose nicht nachhaltiger Wachstumsmodelle, die Europa und die Währungsunion in die Krise geführt haben.

Ausblick

Eine Gesundung der Eurozone erfordert radikale Kurskorrekturen bei allen Hauptbeteiligten. Neue sozial-ökologische Entwicklungsmodelle werden nicht nur in Südeuropa gebraucht, sondern auch in Deutschland. Der deutsche Arbeitsmarkt muss neu reguliert werden, damit die soziale Ungleichheit zurückgedrängt wird. Die Politik muss die deutsche Wirtschaft sowohl zwingen als auch anregen, zum Motor der Energie- und Ressourcen-Wende zu werden. Die deutsche Gesellschaft braucht große öffentliche Investitionen vor allem im kommunalen Bereich, und sie braucht einen Boom sozialer Dienstleistungen – von Kindertagesstätten und Schulen bis zur Altenpflege. Das ist unabdingbar für die Gleichstellung der Geschlechter und die Bewältigung des demografischen Wandels, aber es geht nicht ohne große Steuerreformen, mit denen vor allem Kapitaleinkommen und Vermögen gesellschaftlich nutzbar gemacht werden.

Dies wäre gut für Deutschland, aber auch für unsere Partnerländer in der Eurozone – so wie die Schäden, die durch verfehlte „Reformen“ in Deutschland angerichtet wurden, den Nachbarländern zum Schaden gereicht haben.

 

Quelle:
Marquardt, Jochen / Sonnenberg, Bianca / Sudhoff, Jan (Hrsg.): Es geht auch anders: neue Denkanstöße für politische Alternativen. Köln: PapyRossa Verlag, S. 100-105.