Die kommunalpolitische Arbeit der Kölner Jusos in den 70er Jahren

Hans Gürth

1. Wie die Jusos zur Kommunalpolitik kamen

Kommunalpolitik ist eine immer noch junge Sphäre politischer Betätigung. Das Wachstum der Stadt seit der Industrialisierung war eine Voraussetzung dafür. Hinzukommen mußte aber auch eine gewisse Selbständigkeit in der Gemeindeverwaltung.

Das ist in Deutschland erst mit dem Grundgesetz und seinem dreistufigen Gliederungsprinzip erreicht worden. Die trostlosen Wohnverhältnisse in den Mietskasernen der Zille-Zeit waren noch Gegenstand staatlicher Sozialpolitik – oder hätten es sein sollen.

Kommunale Selbständigkeit ist auch heute nicht überall eine Selbstverständlichkeit. So wurde die urbane Zerstörung von Paris von der Regierung des Staates systematisch betrieben, und nicht vom Bürgermeister, der in seiner Kapitale wenig zu sagen hat. Und weil der Rat von Groß-London mit seiner fortschrittlichen Politik der Thatcher-Regierung zu unbequem wurde, löste diese ihn kurzerhand auf. Seitdem können die U-Bahn-Tarife ungehindert steigen.

Das wäre in der Bundesrepublik nicht möglich gewesen. Natürlich hat die kommunale Selbstverwaltung auch hierzulande enge Grenzen. Die wichtigsten setzt das herrschende Wirtschaftssystem – wie bei jedem Teilbereich der Politik.

Auf die Gemeinde wirkt zudem Druck von oben – durch Bundesland und Gesamtstaat. Gerade in der Beschaffung finanzieller Mittel ist die kommunale Selbständigkeit stark eingeschränkt.

Dennoch gibt es einen großen Gestaltungsspielraum für kommunale Politik. Keine Stadt wird dazu gezwungen, Hochhäuser und Schnellstraßen zu bauen. Keine Stadt muß ihren Grund und Boden an Spekulanten verkaufen. Den städtischen Raum so oder anders zu gestalten, hat aber erhebliche und unmittelbar spürbare Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Menschen.

Wie die Entwicklung der Städte zu steuern sei, wurde in den 20er und 30er Jahren intensiv diskutiert. So stellte der Berufsstand der Architekten Regeln auf, die jahrzehntelang ihre Praxis bestimmten: Die Charta von Athen predigte das „Entmischen“ der Lebensbereiche, also die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Erholung. Die Politiker bewegte zu dieser Zeit andere Themen. Es nahte der Zweite Weltkrieg, der Millionen von Menschen das Leben kostete und die Städte der Überlebenden zerstörte.

Der Wiederaufbau in der Bundesrepublik war zusätzlich durch einen Zustrom von Flüchtlingen belastet, die in die Wohnbevölkerung integriert werden mußten. Kommunalpolitik war kein Thema, über das lange geredet werden konnte. Kommunalpolitik wurde einfach gemacht.

Die Jusos in Köln bildeten da keine Ausnahme. Es gab wirklich wichtigere Fragen anzupacken: das Weiterbestehen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in den Faschismus geführt hatten; die Remilitarisierung des Staates und seine einseitige West-Integration; die Rolle der neugegründeten Gewerkschaften; die niemals verarbeiteten Folgen des Nazireichs und schließlich auch die Befreiungsbewegungen in den immer noch bestehenden Kolonien.

Während des sogenannten „Wirtschaftswunders“ war die Bevölkerung öffentliche Unruhen nicht gewohnt. Da gingen im Oktober 1966 – noch vor Schah-Besuch und Berliner Studentenprotesten – plötzlich in Köln Schüler und Studenten auf die Straße, um ihren Unmut gegen eine kommunale Entscheidung laut zu äußern. Das erregte bundesweites Aufsehen. „Krawalle“ nannte die Presse solche Demonstrationen. Denn die Polizei hatte mit voller Härte zugeschlagen.

Was war geschehen ? Die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) hatten ihre Fahrpreise kräftig angehoben. Und trotz Wirtschaftswunder gab es immer noch zahlreiche Menschen, die so etwas empfindlich traf.

Die SPD regierte schon lange in Köln. Ihre maßgeblichen Politiker vermuteten deshalb hinter solchen Umtrieben sogleich die feindliche CDU oder noch finsterere Bewegungen (NPD, DFU …). Aber die Kölner Jusos verteidigten vehement die Interessen und das Vorgehen der Demonstrierenden und schrieben ihrer Mutterpartei ins Stammbuch:

„Diese Demonstrationen haben große politische Bedeutung, ganz besonders für die SPD, da mit ihnen ein Anliegen der sozial Schwächsten wahrgenommen wird, also der ureigensten Wählerschaft der SPD.“

Damit begann für die Jusos in Köln eine Epoche verstärkter Einmischung auch in die Kommunalpolitik. Im Juli 1969 wurde ihnen zwar vom SPD Unterbezirksvorstand vorübergehend ihre Organisation entzogen, doch schon ab Ende 1969 war wieder an eine geregelte Arbeit zu denken. Der im Oktober 1970 gewählte Kölner Arbeitsausschuß teilte sich die Arbeit nach Themen, statt nach Funktionen zu: Punkt 2. von vier hieß „Kommunalpolitik“.

2. Aktionen – Mieterschutz in Köln

Die Wohnungsnot war eine besonders traurige Konstante in den Lebensverhältnissen der meisten Menschen in deutschen Städten. Wie jeder weiß und deutlicher denn je sehen kann, ist sie es bis heute geblieben.

Aus einem „Arbeitskreis Mietrecht“ ging das erste kommunalpolitische Projekt der Kölner Jusos hervor: die „Aktion Mieterschutz“.

Als kurzfristige Schwerpunkt-Forderungen wurden formuliert:

  1. Bekämpfung des Mietwuchers (Rückführung aller Wohnungsmieten auf die Kostenmiete)
  2. Verstärkung des Mieterschutzes (Bereitstellung von Ersatzwohnungen bei Räumung, gesetzlicher Mustermietvertrag)
  3. Einführung der Mietermitbestimmung (Mieterbeiräte in den Aufsichtsgremien der Wohnungsbaugesellschaften)
  4. Übernahme der Wohnungsvermittlung durch die Gemeinden
  5. Steuerung der Bautätigkeit (Förderung des sozialen Wohnungsbaus)

Doch die Aktion Mieterschutz erschöpfte sich nicht im Verfassen von Forderungspapieren. Mieterberatung wurde praktiziert und mit Flugblättern und Anzeigen wurde dafür geworben. Presse und Rundfunk berichteten über die Aktion. Jusos anderer Städte nahmen sie als Vorbild. Mieter schlossen sich zu Initiativen zusammen, Vermieter rückten von ihren Plänen ab und gaben Forderungen der Mieter nach. Unter dem Slogan „Schluß mit dem Maklerunwesen“ wurde schließlich erreicht, daß die Stadt Köln eine Mieterberatungsstelle und eine Wohnungsvermittlungsstelle einrichtete.

Die Kölner Aktion Mieterschutz präsentierte sich auf der Kommunalpolitischen Arbeitskonferenz der Jusos in Mannheim im April 1971.

Ihr Erfolg zog Nachahmer an. In einzelnen Ortsvereinen riefen Jusos Aktionen ins Leben zum Thema „Preisvergleich“ (zwischen Supermärkten) oder gar eine „Aktion Babysitting“. Solche Imitate zogen die Aktion Mieterschutz im nachhinein ins Zwielicht. In einem Strategiepapier namens „Plattform“ kritisierten die Kölner Jusos im Oktober 1973 alle Aktionen als zu kräftezehrend und als im Prinzip „karitativ“, rückten sie also in der Nähe der Bahnhofsmission.

Dabei war die Aktion Mieterschutz ein sehr erfolgreiches Beispiel der „Doppelstrategie“, die durch Mobilisierung der Bevölkerung Druck auf die SPD erzeugen sollte. Daß dies gelungen ist, ist an der Einrichtung der erwähnten Stellen durch die Stadt eindeutig ablesbar.

3. Konzepte – Das Beispiel München

Andernorts formulierten die Jusos bereits umfassendere Vorstellungen über eine fortschrittliche Politik auf kommunaler Ebene. Die Kölner Konzepte, Plattformen und Programme folgten später.

Ein bekannter Fall war Anfang der 70er Jahre München. Die Jusos dort hatten eine gründliche Analyse der kommunalen Situation in allen Bereichen erarbeitet. Daraus abgeleitet wurden Forderungen für konkrete Maßnahmen sowie langfristige Forderungen. Mit ihrem „Kommunalpolitischen Programm für die 70er Jahre“ wollten einige Münchener Jusos 1972 zum Stadtrat kandidieren.

Statt auf eine sachliche Diskussion, stießen sie auf eine Hetzkampagne. Die Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) lautete: „Konzept für München auf der Grundlage eines Räte-Systems“.

Damit war nicht der Rat der Stadt gemeint – ein System, mit dem alle Gemeinden leben müssen. Die umfassenden Mitbestimmungsforderungen für Bürger in allen Bereichen – die Kölner Mietermitbestimmung war da nur ein Einzelfall – wurden dazu mißbraucht, Assoziationen ans Petersburger Winterpalais und an Berlin 1919 zu wecken – als geschossen wurde.

Auch innerparteilich führte dieses Kommunalpolitik-Konzept zu den heftigsten Querelen, die die SPD in dieser Zeit zu verzeichnen hatte – bis hin zum spektakulär inszenierten Rücktritt des Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel.

Was hatte die Handhabe geliefert, die Münchener Jusos so sehr ins Abseits zu stellen ? Es waren einige Forderungen, die zu dieser Zeit weit über München hinaus populär waren, beispielsweise: „daß auch für sämtliche Verkehrsmittel der Nulltarif einzuführen ist“

Das ließ sich vortrefflich dazu benutzen, auch andere Forderungen abzukanzeln, die gar nicht im Programm standen. Genau dies tat Ex-Oberbürgermeister Vogel dann auf der Mannheimer Juso-Konferenz:

„Auf Seite 3 des Münchener Papiers, das mir hier im Wortlaut vorliegt, wird die unentgeltliche Bereitstellung nicht nur gefordert für die Gesundheitsvorsorge und die Krankenversorgung, für Sozialeinrichtungen und Kindergärten, sie wird auch gefordert für die gesamte Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und die dazugehörige Entsorgung, sie wird insbesondere gefordert für die Versorgung mit Wohnraum. Also auch die völlig kostenfreie Wohnung.“

Wortlaut des Münchener Programms laut FAZ vom 15. Oktober 1970: „Die Miete der Wohnung soll 15 bis 20 Prozent des Durchschnittseinkommens nicht übersteigen.“ Warum hätte sich gerade dieses Blatt die Vogelschen Enthüllungen entgehen lassen sollen ?

Einem ähnlichen Strickmuster werden wir drei Jahre später in Köln wiederbegegnen – die Rolle der FAZ wird dann von der örtlichen Presse übernommen.

4. Ein Arbeitsprogramm – Die Konferenz von Mannheim

Mit ihrer kommunalpolitischen Konferenz am 24./25. April 1971 in Mannheim machten die Jusos die Kommunalpolitik im Rahmen ihrer „Doppelstrategie“ hoffähig, die – diesmal sogar als Tripelstrategie – zum wiederholten Male definiert wurde (vergl. Kommunalpolitik für wen ? Arbeitsprogramm der Jungsozialisten). Zur Bekräftigung der Definition heißt es weiter:

„Die Aktivierung der Wohnbevölkerung und ihrer Ansprüche ist die wichtigste Voraussetzung zur Änderung der Inhalte der Kommunalpolitik.“

Denn:

„Für die SPD gilt, daß sie sich in der Kommunalpolitik zu sehr auf die Vorbereitung von Wahlen, auf die Nominierung von Amts- und Mandatsträgern und auf die parteiinterne Diskussion strittiger Fragen beschränkt. Die Partei kapselt sich auf örtlicher Ebene gegenüber der nichtorganiserten Bevölkerung ab.“

Auch die Aktion Mieterschutz aus Köln sah sich damit in ihrer Arbeit bestätigt. Es wurde ein umfassendes Programm verabschiedet, das die Leitlinien für kommunalpolitische Arbeiten der Jusos in den nächsten Jahren absteckte.

Das Papier von Mannheim wird zu einem zwar wenig gelesenen, aber viel zitierten Grundlagenwerk für „Linke Kommunalpolitik“ (so Kapitel II.). Das Buch enthält 130 Seiten Programm, ergänzt um 70 Seiten Diskussionsbeiträge, Anträge, Modelle und Aktionen.

Viel Literatur zum Thema gab es bis dahin nicht. Der in gesellschaftlichen Fragen engagierte Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte Jahre vorher einen kritischen Beitrag geliefert, ein Pamphlet, wie er selbst es nannte: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Darin nennt er als Hauptursache für die Misere der Stadtentwicklung „die Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten“. Und er zitiert den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der angesichts der Großstadt schon in den 20er Jahren meinte: „Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit.“

Dieser ehemalige Oberbürgermeister hat als erster Nachkriegs-Bundeskanzler eine umfassende Restaurierung und Zementierung der bestehenden Eigentumsverhältnisse betrieben. Bodenreform war nun keine Sittlichkeitsfrage mehr. Darüber auch nur zu reden, war schlimmer als ein Sittlichkeitsdelikt.

Erst Ende der 60er Jahre wurden diese Forderungen wieder aufgegriffen. Sie wurden zwar nicht von der SPD erhoben – die übrigens zu dieser Zeit an der Regierung war -, doch zumindest von ihrem Nachwuchs:

„Die Verwirklichung dieser Zielvorstellungen setzt notwendig voraus, … daß zugleich auch die Bodenordnung grundlegend geändert wird: Teile des städtischen Bodens müssen kommunalisiert werden. … Gemeindeeigener Grund und Boden wird ab sofort für private Zwec ke nur in langfristigen Nutzungsrechten überlassen.“

Das Mannheimer Arbeitsprogramm behandelt nicht nur Grundsatzfragen. Für alle Bereiche der kommunalen Politik werden Analysen und Abhilfemaßnahmen angeboten: Stadtplanung – Sanierung – Wohnen und Mieten – Verkehr – Freizeiteinrichtungen – Wirtschaftsförderung – Bildungspolitik – Gesundheits- und Sozialwesen – Verwaltungsreform.

Zentrale Themen sind bereits 1971 die zunehmende Umweltbelastung, die Unterstützung von Bürgerinitiativen und die Beteiligung von Ausländern an kommunaler Demokratie gewesen.

Die späteren Erfolge der Grünen gerade in den großen Städten zeigen heute, wie schlecht die SPD damit gefahren ist, derartige Forderungen mit aller Kraft zu bekämpfen und zu diffamieren, statt sie erfreut aufzugreifen und sie zu ihren eigenen zu machen.

Die Jusos in Köln hatten, wie viele andere Untergliederungen, ihre Vorarbeiten in das Mannheimer Programm eingebracht. Die Ergebnisse sollten sich als überaus nützlich für die weitere Arbeit an konkreten Problemen erweisen, aber auch für die Erarbeitung eines eigenständigen Kölner Programms.

5. Kölner Verkehrsfragen – Ein kleiner Erfolg

Die Mannheimer Konferenz lag ein gutes halbes Jahr zurück, da planen die KVB einen neuen Anschlag auf die Geldbeutel ihrer geschätzten Fahrgäste.

Man war in Köln – nach den Demonstrationen von 1966 – sehr sensibel geworden, wenn das Thema anklang. Schon 1968 hatte die SPD-Ratsfraktion erklärt, daß Tariferhöhungen in Zukunft nicht mehr in Frage kämen. Im Januar 1971 munkelte die Presse bereits, nun sei es wieder soweit. – „Gezielte Falschmeldungen“, erklärte die SPD-Fraktion.

Im März 1971 lag dem Parteitag ein Antrag vor, Tariferhöhungen seien kein geeignetes Mittel der Verkehrspolitik. – „Bitte nur keine schlafenden Hunde wecken“, plädierte die Fraktion – mit Erfolg – auf Nichtbefassung. Im Dezember kam es dann auf den Tisch. 25 Prozent mehr wollte die KVB abkassieren. DGB, einzelne Gewerkschaften, Studentenverbände und natürlich Jusos protestierten energisch. Schließlich forderte damals sogar der Ring Christlich-Demokratischer Studenten den Nulltarif !

Ungerührt von diesem Protest beschloß der Kölner SPD-Vorstand mit 8 gegen 5 Stimmen seine Zustimmung zu den Plänen des Verkehrsbetriebs. In der SPD-Ratsfraktion war ohnehin nur eine winzige Minderheit dagegen.

Doch eine Hürde war noch zu nehmen: Ein Sonderparteitag sollte über die Frage entscheiden. Dieser lehnte die Erhöhung mit sehr knapper Mehrheit – und aufschiebender Wirkung – ab. Die Parteitags-Delegierten waren noch nicht zu so festen Blöcken geschmiedet, wie das später zur Regel wurde. Viele hatten sich von den besseren Argumenten überzeugen lassen. Und die kamen von den Rednern der Jusos auf diesem Parteitag:

„Sozialdemokratische Kommunalpolitik darf nicht soweit verkommen, daß sie nur noch als Konkursverwaltung einer ohnehin bankrotten kommunalen Selbstverwaltung angesehen werden kann.“

Der Beschluß hatte seinen Pferdefuß: Die Ablehnung war nicht endgültig, sondern nur mit aufschiebender Wirkung. Erst müsse die Ratsfraktion sich einmal die Arbeit machen, ein schlüssiges Konzept für die Kölner Verkehrspolitik vorzulegen: Ablehnung bis dahin also.

Und ein kleines Wunder geschah: Fast auf den Tag ein Jahr später, im Februar 1973, lag eine Broschüre im rosa Umschlag und mit dem Titel „Verkehrskonzept für die Stadt Köln“ vor. Zwar war sie für eine Jahresarbeit etwas dünn geraten. 4/5 des Heftes füllten alte Beschlüsse, die Aufzählung von Plänen, Statistiken, ein Briefwechsel mit allerlei Direktoren, auf zwei Seiten auch noch „Forderungen an Bund und Land“, die ja immer billig zu haben sind.

Aber auf sieben Schreibmaschinenseiten listete die Ratsfraktion dann doch in sauber numerierten Punkten auf, was künftig ihre „Grundsätze für die Verkehrspolitik in Köln“ sein sollten:

  • „… müssen wir eine weitere Förderung des Individualverkehrs wegen seiner umweltzerstörerischen Wirkung ablehnen.“
  • „Signalanlagen sollen dem Schienenverkehr Vorrang einräumen“
  • „Schaffung autofreier Zonen ohne Bereitstellung zusätzlichen Straßenraums“

Die Forderungen der Jusos waren mit diesem „Konzept“ zwar bei weitem nicht abgedeckt. Doch hätte es ein verkehrspolitisches Umdenken auslösen können. Aber dieses Papier war nicht ernstgemeint. Die Fraktion lieferte ihre Strafarbeit ab. Die Tarife konnten nun wieder angehoben werden. Von da an tauchte das rosa Konzept nie wieder auf.

Auch fast ein Vierteljahrhundert später sind die neuen autofreien Zonen in der Kölner Innenstadt Straßen, durch die Autos fahren (Ehrenstraße, Breite Straße, Mittelstraße). Wirklich autofrei sind nach wie vor nur die beiden Konsum-Meilen der 50er Jahre. Und heute wie zu jener Zeit warten die Straßenbahnen und Busse mit allen ihren Passagieren geduldig vor den Signalanlagen.

6. Städtebau – Kommunalpolitik geht von der Partei aus

In den nächsten Jahren kam auf die Fraktion der SPD im Rat Ungewohntes zu. Hatte sie bis dahin relativ unbehelligt die zunehmende Stadtzerstörung ignorieren können, so regte sich nun massiver Widerstand in den örtlichen Parteigliederungen.

Die Jusos hatten in Köln durch ihre neugewonnene Verankerung in den SPD-Ortsvereinen und durch ihre intensive Mitarbeit seit 1970 mehr und mehr Einfluß auf die Politik gewonnen. Das galt vor allem für die Innenstadt, wo sich die brisanten Probleme häuften.

Auch in Köln war längst der Teufelskreis aller Großstädte in Gang gekommen:

  • Verschlechterung der Wohnverhältnisse durch Verkehrslärm, Luftverschmutzung und verfallende Bausubstanz.
  • Ausnutzung dieser Lage durch finanzstarke Unternehmen des Dienstleistungssektors: Herbeiführen von Sanierungsbedarf.
  • Umweltbelastung durch Förderung des Straßenbaus: die historische Untat war der Bau der Nord-Süd-Fahrt und ihrer Verzweigungen
  • Wegzug derjenigen, die sich das leisten können, in das weniger belastete Umland.
  • Dadurch strömten noch mehr Autos aus dem Umland in die Innenstadt – ein neuer Schub für die Stadtzerstörungs-Spirale.

Dieser Entwicklung hatten die SPD-dominierte Verwaltung und Politik bisher weitgehend tatenlos zugeschaut, sie zum großen Teil auch durch die falschen Maßnahmen gefördert. Ihr mußte endlich Einhalt geboten werden.

Köln hatte und hat noch immer die höchste Innenstadt-Wohndichte deutscher Großstädte. In Köln hatten sich aber auch Versicherungs-Konglomerate ausgebreitet, die unter dem Zwang ständiger Immobilienverwertung in intakte und volkstümliche Viertel vordrangen.

Die Jusos in den SPD-Ortsvereinen der Innenstadt versuchten, das mit aller Kraft und mit den bewährten Aktionsformen der Mobilisierung der betroffenen Menschen zu verhindern – Beispiele:

  • Der Aufkauf und die Umwandlung eines ganzen Viertels um die Friesenstraße durch den Gerling-Konzern.
  • Das Verdrängen von Wohnungen durch immer mehr Büros in der Neustadt durch Gothaer und andere Versicherungen.

Dieses wirksam zu verhindern, gelang nicht. Dafür bildeten Finanzkraft und langer Planungs-Atem der Konzerne, aber auch die Kollaboration der Stadt mit den Unternehmen zu starke Gegenkräfte. Das Friesenviertel hat seinen urkölschen Charakter und seine ursprünglichen Bewohner inzwischen vollständig verloren. Wo die Wohnbevölkerung in großem Umfang vertrieben wurde, steht heute Büroraum leer, weil man am Bedarf vorbei spekuliert hat.

Ein trauriges Kapitel jener Tage war für die nördliche Innenstadt die Beseitigung der schönen Park- und Platzanlage Ebertplatz. Sie mußte einer Schnellstraßen-Verbindung weichen und teilt seither das Schicksal fast aller „Plätze“ an den Ringen, deren Name noch daran erinnert, daß sie nicht immer häßliche Straßenkreuzungen waren.

Andere Projekte der Jusos waren die Abwehr emmissions-intensiver Industrieansiedlungen im Kölner Norden (Flächennutzungsplan 218) oder der ebenfalls vergebliche Versuch, ein ungenutztes größeres Gelände der Stadt dem sozialen Wohnungsbau zuzuführen, statt es für eine Villen-Zersiedelung unter Preis an Millionäre zu verkaufen (Egelspfad in Junkersdorf).

Wenn auch bei fast all diesen Aktionen und Projekten keine kurzfristigen Erfolge sichtbar waren, so blieb der neue Ansatz der Kommunalpolitik doch nicht ohne Auswirkungen. Beispielsweise beschloß der Stadtrat ein strenges Verbot der weiteren Umwandlung von Wohnraum für gewerbliche Nutzung (Wohnraumzweckentfremdungsverbot). Auch die Sanierung von Stadtvierteln wird seitdem mit anderen Prioritäten betrieben. Die als Sanierung bezeichnete Umwandlung von Ehrenfeld wurde wegen des Widerstands der Bewohner aufgegeben.

Nach der Verlagerung der Stollwerck-Fabrik aus der Südstadt wurde ein Wohnviertel neu errichtet, das zwar nicht den Forderungen der SPD-Ortsvereine und Bürgerinitiativen entsprach, aber von den früheren Luxusvisionen der Kölner Stadtplanung doch weit entfernt war.

Seit Ende der 70er Jahre sind erstmals auch von der Verwaltung selbst positive Impulse gekommen. Mit einer jüngeren Generation von Stadtplanern begann hier ein überfälliges Umdenken. Erstes sichtbares Zeichen war das Stadtentwicklungskonzept von 1978. Seitdem ist die Verwaltung in vielen Fragen des Städtebaus weitaus fortschrittlicher als der Rat.

7. Straßenbau – Eine Neuorientierung tut not

Eine weitere Abwehrschlacht der Jusos galt dem Straßenbau. Die Kölner Verkehrsplanung folgte bis dahin keinen politischen Vorgaben – denn es existierten keine. Statt dessen wurden von Rat und Verwaltung Ingenieurbüros und Professoren der Verkehrswissenschaft für das Erarbeiten von Plänen engagiert.

Deren Grundlage waren statistische Erhebungen und Hochrechnungen. Wenn eine Verkehrszählung ergab, daß so und so viele Fahrzeuge die Stadt passierten, wurde deren Zunahme als Naturereignis gesehen und für die Zukunft hochgerechnet. Das bildete dann die Grundlage für langfristige Pläne, die sich hauptsächlich um Systeme von Schnellstraßen drehten.

Nach diesem Muster wurde der Kölner Generalverkehrsplan 1957 aufgestellt, beschlossen und seitdem von der Verwaltung Schritt für Schritt in Betonwirklichkeit gegossen. So entstanden die großen Autobrücken und deren Zubringerstraßen bis weit in die Stadt hinein. So wurde beispielsweise die Roonstraße aus einer herrlichen Allee zu einem schäbigen Rennbahn-Ausläufer der Severinsbrücke. So wurden im rechtsrheinischen Köln riesige Erholungsgebiete, wie die Merheimer Heide, zerstört.

Diesem Ansatz entsprach auch, die Straßenbahn weiträumig und mit großen Kosten unter die Erde zu verbannen. Denn damit war ein Hindernis mehr für den fließenden Verkehr beseitigt. Für den öffentlichen Verkehr war nichts gewonnen. Denn die Züge der U-Strab, wie sie früher noch korrekt genannt wurde (Unterpflasterstraßenbahn), fahren unterirdisch genauso langsam und unpünktlich wie über der Erde – auch in ihren Schächten müssen sie noch an Kreuzungen warten.

Niemand warf die Frage auf, ob das, was da entstand, auch anstrebenswert war und den Interessen der Menschen in der Stadt entsprach. Weil es so viele Autos gab und ständig mehr geben würde, mußte für diese Autos eben Platz geschaffen werden. Diese Art des Vorgehens nannten nicht nur die Jusos „technokratisch“: Die sture Umsetzung von einmal beschlossenen Plänen unter dem Diktat scheinbarer „Sachzwänge“.

Um den aufkeimenden Widerstand der Menschen zu umgehen, ließen sich die Straßenbauer schon mal etwas einfallen: So wurde eine autobahnähnliche Straße, die den Stadtteil Delbrück in vier Teile zerschnitten hätte, jahrelang unter dem harmlosen Kürzel EL 286 geführt. Das stand für „Ersatzlandstraße“ und klang nach dörflicher Idylle. Die Jusos deckten diesen Etikettenschwindel auf.

Mit Zoobrücke, Riehler Straße und Innerer Kanalstraße war bereits begonnen worden, durch Innenstadt und Grüngürtel einen neuen Autobahnring zu legen. Als „Stadtautobahn“ sollte das Werk in einer schwungvollen Kurve bis zum südlichen Rheinufer vollendet und ins Rechtsrheinische ausgedehnt werden.

Damit trafen Planer und Lobbyisten jedoch auf entschlossenen Widerstand. Nicht nur Jusos und Ortsvereine der SPD, auch zahlreiche Bürgerinitiativen lehnten das Vorhaben vehement ab.

Der Kampf gegen die Stadtautobahn währte lange Jahre. Erst 1978 gelang es, das verheerende Projekt endgültig zu stoppen. Und damit war – endlich – der unselige Generalverkehrsplan mitsamt seiner Neuauflage von 1973 aus den Angeln gehoben. Die Partei hatte sich in einer wichtigen kommunalen Frage durchgesetzt. Ihre bisher so selbstherrliche Ratsfraktion mußte klein beigeben. Sogar der Oberbürgermeister sprach nun davon, daß es die „autogerechte Stadt“ nicht geben könne.

8. „Doppelstrategie“ in der Bewährung

Die beschriebenen kommunalpolitischen Aktionen und Projekte der Kölner Jusos sind nur vereinzelte Beispiele für ihre Aktivitäten in der ersten Hälfte der 70er Jahre. In der Praxis bewährte sich die – bewußt oder nicht – dabei stets verfolgte „Doppelstrategie“:

  • Unbekümmert um konträre Positionen der SPD-Mandatsträger gingen Jusos an die Öffentlichkeit, der sie ihre Absichten und Ziele deutlich mitteilten. Ohne Berührungsangst arbeiteten sie dabei auch mit anderen Organisationen und spontanen Selbsthilfe-Aktionen – den Bürgerinitiativen – zusammen.
  • Gleichzeitig warben und stritten sie in der SPD auf allen Gliederungsstufen und in allen verfügbaren Gremien heftigst für ihre Ziele.

Dabei war der Widerstand kräftig. Auch die Stimmungsmacher der Lokalpresse bekämpften die Juso-Kommunalpolitik stets bis aufs Messer. Es erschien so gut wie kein Bericht, der das, was auf Tagungen besprochen wurde und abgelaufen war, auch nur einigermaßen richtig wiedergab.

Die Zeitungen, besonders die, die sich selbst liberal nannten, kamen ihrer Pflicht, die Bevölkerung sachlich zu informieren, nicht im mindesten nach. Statt dessen war stets nur der Schaum vor dem Mund deutlich zu spüren, mit dem Schlagzeilen, Berichte und Kommentare abgefaßt waren.

Auch innerhalb der Parteidiskussionen wurde die Ablehnung von Anträgen manchmal mit kurioser Logik drapiert. Ein Beispiel für viele: Im Herbst 1973 beteiligten sich die USA an einem Militärputsch in Chile, bei dem der Präsident Salvador Allende und Tausende seiner Landsleute ermordet wurden. Die Kölner Jusos forderten, eine Straße nach diesem vorbildlichen Sozialisten zu benennen: vorzugsweise jene Ehemals-Allee, die bis heute den Namen des Bismarckschen Kriegsministers Roon trägt. Dem wurde entgegengehalten, der neue Name sei für die Kölner zu schwer auszusprechen. Kurze Zeit danach wurde die Langgasse in Neven-Du-Mont-Straße umgetauft.

9. Programmarbeit – Viel Wirbel um Papier

Neben Aktionen und Projekten fand auch eine intensive kommunalpolitische Schulungsarbeit statt. Im Rahmen von Wochenendseminaren wurden die Schwierigkeiten erläutert, auf die kommunale Politik im Rahmen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems stoßen muß. Darüber hinaus wurden den zahlreichen Besuchern solcher Veranstaltungen aber auch detaillierte Kenntnisse über konkrete rechtliche und politische Fakten in den einzelnen Bereichen dieser Politik vermittelt.

Nebenprodukt dieser Arbeit war ein Konzept, das in ein umfassendes Wahlprogramm münden sollte. Schließlich reichte es nicht aus, seine kommunalen Mandatsträger ständig wegen Untätigkeit oder Obstruktion zu kritisieren. Es war ihnen auch einmal etwas an die Hand zu geben. Ihre Arbeit sollte sich an einem Programm messen lassen, das klare Ziele und Vorgaben enthielt. Denn solche Programme waren keineswegs selbstverständlich.

Kommunalpolitische Wahlkämpfe waren bisher – außer mit den Porträts der Kandidaten – mit nichtssagenden und unverbindlichen Floskeln bestritten worden – wie: „Städtebauliche Akzente setzen“ (Codewort für Hochhäuser) oder „verdichtete Räume schaffen“ (Domplatte?). Manchmal waren auch wohlklingende, aber unrealistische Visionen daruntergemischt: „Wohnen am Strom“.

Der Kommunalpolitische Arbeitskreis der Jusos brachte Material zu Grundsatzfragen ein. Der Unterbezirk Köln der SPD faßte dies mit anderen Vorlagen zusammen und schließlich wurde im Auftrag des SPD-Vorstandes und unter reger Beteiligung auch der Ratsmitglieder ein 80 Seiten starkes Papier angefertigt: „Kommunalpolitische Grundsätze der Kölner Sozialdemokraten“.

Der Entwurf sollte als Grundlage für ein Wahlprogramm der Kölner SPD zur Kommunalwahl 1975 dienen. Der Parteitag, der ihn am 8. Juni 1974 beschließen sollte, wurde zu einer langen Arbeitssitzung in einem für Parteitage ungewöhnlichen Rahmen eingeladen: der Kantine der damals noch existierenden Chemischen Fabrik Kalk.

Der Entwurf faßte die Erkenntnisse zusammen, die sich aus der nun schon jahrelangen Beschäftigung mit diesen Fragen ergeben hatten. Er gliederte sich in die Kapitel: Stadtentwicklung und Stadtplanung – Umwelt – Wohnen und Mieten – Verkehr – Freizeit, Erholung, Sport – Kulturpolitik – Bildung – Jugend- und Sozialpolitik – Gesundheits- und Krankenhauspolitik – Mehr Demokratie

Es lohnt nicht, ausführlich aus diesem Entwurf zu zitieren. Denn er ging an keiner Stelle über die bisher immer und immer wieder erhobenen Forderungen hinaus. Er war ein Kompromißpapier zwischen eindeutigen Festlegungen wie „kein weiterer Bau von Hochstraßen und kreuzungsfreien Schnellverkehrsstraßen in den städtischen Verdichtungsräumen und in der Innenstadt“ und der Fortschreibung einer zwar verfehlten, aber nun einmal begonnenen Nahverkehrsplanung („… soll daher im U-Bahnbau die Ost-West-Strecke Bensberg / Neumarkt / Lövenich … in Angriff genommen werden“).

Nirgends stand ein Reizwort, das für böswillige Zwecke mißbraucht werden konnte. Keine Rede war vom „Nulltarif“. Die Frage der KVB-Tarife war sogar behutsam ausgeklammert worden. Die Jusos waren auf dem Weg zu Realpolitikern.

Aber das nützte ihnen nichts. Ein Sturm der Entrüstung brach über sie herein. Schon während der Antragsberatung waren merkwürdige Aufgeregtheiten festzustellen. Ein Ortsvereinsvorsitzender trat aus der SPD aus, um ihr gleich danach wieder beizutreten. Der Entwurf wurde schließlich nach 14 Stunden Diskussion von einer deutlichen Mehrheit verabschiedet. In seinem Schlußwort gab der SPD-Unterbezirksvorsitzende Erich Henke dann eine Kostprobe seines Demokratieverständnisses:

„Ich habe mit dem Gedanken des Rücktritts gespielt … meine Freunde und ich werden beim nächsten Parteitag versuchen, die hier gefaßten Beschlüsse zu ändern.“ Samstag kurz vor Mitternacht war dieser Parteitag zu Ende. Am Montag eröffnete die Presse ihr Trommelfeuer: „Kölns SPD am Scheideweg“ – „Marathonlauf nach links“ – „So geht die SPD kaputt“ – „CDU meldet die ersten Übertritte“ usw. usw. Die armen Bürger Kölns mußten nun den Eindruck haben, ihre SPD sei jetzt endgültig übergeschnappt.

Mit keinem Wort wurde auf die beschlossenen Inhalte eingegangen. Sie hätten ja auch die ganze Polemik entlarvt. Statt dessen trat man die folkloristischen Auftritte breit, in denen sich gestandene Politiker so sehr gefallen.

Ganz ohne Begründung kam diese Sensationsmache natürlich doch nicht aus. Dafür mußte die Präambel des Entwurfs herhalten. Als Langfristziel des demokratischen Sozialismus waren dort alte sozialdemokratische Grundsatzpositionen aufgeführt:

  • die Einführung der Mitbestimmung über Wirtschafts- und Sozialräte in Stadt, Land und Bund;
  • Formen demokratischer Investitionslenkung und Vergesellschaftung der Banken und der Schlüsselindustrie.

Da war sie wieder, die Räterepublik à la FAZ. Und daß mit Vergesellschaftung etwas anderes gemeint ist als die seinerzeitige sowjetische Planwirtschaft – nämlich zu Ende gedachte Wirtschaftsdemokratie -, das konnte in Köpfen mit dem eben zitierten Demokratieverständnis freilich keinen Platz finden.

Eine demokratisch gestaltete Wirtschaft führt zu besseren Zuständen, als sie heute zu besichtigen sind: Vier Millionen Arbeitslose mit steigender Tendenz, ein in autoritären Machtkämpfen verschlissenes Management, das ganze Industrien zu Bruch fährt – unter dem Regime von Großbanken, die Milliarden in den Sand setzen. In einer demokratischen Wirtschaft und Gesellschaft ist auch kein Platz für Korruption und organisiertes Verbrechen, das heute in die Unternehmen eindringt.

Es war nicht die Absicht des Entwurfs, die Umsetzung dieser langfristigen Ziele ausgerechnet der Kölner Kommunalpolitik für die Legislaturperiode 1975 bis 1980 aufzubürden. Das Papier sagte lediglich, worin die Ursachen für die einschränkenden Rahmenbedingungen jeder Kommunalpolitik liegen.

Dienten doch diese Einschränkungen den Ratsdamen und -herren dazu, bei jeder Gelegenheit zu jammern und unliebsame Forderungen damit abzuwehren. Alle KVB-Tarifdebatten waren nach diesem Muster abgelaufen: „Das Land … Der Bund …“. Wenn nun ein Programm klar und deutlich begründete, warum das so ist, dann war das plötzlich fast ein Rücktrittsgrund?

Die groteske Inszenierung um diesen Entwurf für ein Wahlprogramm erinnerte fatal an München 1970/71. Schließlich galt es jetzt, alle Kräfte zu mobilisieren, um sich dem Wichtigsten zuzuwenden: Und das sind nicht die Programme, sondern – wie im Mannheimer Papier nachzulesen ist – die Nominierung von Amts- und Mandatsträgern. Ein halbes Jahr später verabschiedete die kommunalpolitische Bundeskonferenz der SPD in Nürnberg Grundsätze, die dem Kölner Entwurf inhaltlich aufs Haar glichen, in großen Teilen sogar darüber hinausgingen. So beschloß die Bundespartei das aktive und passive Wahlrecht für Ausländer in den Kommunen. Diese Forderung hatte in Köln noch zu Heulen und Zähneklappern geführt.

Aus dem Nürnberger Papier entstanden die Kommunalpolitischen Grundsätze der SPD. Diese beschloß ein Bundesparteitag am 15. November 1975 in Mannheim. Auf Seite 1 des nun hochoffiziellen Papiers war zu lesen:

„Die kapitalistischen Produktions- und Verwertungsbedingungen unserer Gesellschaft sind die Ursachen für den steigenden Problemdruck in unseren Gemeinden.“ Es folgten konkrete Problembeschreibungen und klare Handlungsempfehlungen – genau wie im Kölner Programm-Entwurf.

Aber in Köln waren millerweile die Wahlen gelaufen. Und damit war das dieser Beschluß der örtlichen Presse keine Zeile mehr wert.

Im Mai 1975 hatte sich der Theaterdonner längst gelegt, und die Kölner SPD war – statt mit einem umfassenden Programm – mit einer knappen Broschüre So sichern wir Kölns Zukunft in den Wahlkampf gezogen. Darin finden wir Programmpunkte wie „Schutz vor Kriminalität weiter verbessert“, „Auch im Sport immer voraus“ und „Die Rhein-Metropole muß ihre Eigenart behalten“ – schön wäre es ja gewesen, siehe oben unter „Friesenviertel“.

Doch ganz spurlos waren die Jahre kommunalpolitischer Juso-Arbeit und der vor einem Jahr beschlossene Entwurf auch an dieser Broschüre nicht vorbeigegangen. Im Abschnitt Verkehr steht das klare Versprechen: „Der Bau weiterer großer Straßen in Köln ist nicht vorgesehen.“

Bis auf vereinzelte Rückfälle – Rheinuferstraße, Mediapark-Zubringer – wurde das bisher auch eingehalten. Die Ampel-Vorrangschaltung für den ÖPNV wurde ebenfalls versprochen. Doch bis auf einzelne Fälle läßt sie bis heute auf sich warten.

10. Verfassungsfragen – Mehr Basisdemokratie in der Gemeinde

Die Kölner Kommunalpolitik stand jetzt personell auf einer breiteren Basis: Parlamente waren in den Stadtbezirken eingerichtet worden, die zugehörigen Verwaltungen waren im Aufbau.

Das geschah im Vorgriff auf eine grundlegende Reform der nordrhein-westfälischen Gemeindeverfassung. Diese Verfassung sieht nach britischem Vorbild eine Zweigleisigkeit der Organe Rat und Verwaltung vor. Der ehrenamtliche Rat ist zwar „allzuständig“, wie es heißt. Er verliert aber gerade deshalb vor allem in Großstädten sehr schnell die Übersicht über die vielfältigen Details, die er zu regeln hat. Die Verwaltung, die Ratsbeschlüsse ausführen muß, ist personell und sachlich besser ausgestattet. Sie kann deshalb auch auf die Vorbereitung der Beschlüsse und auf den Ablauf ihrer Beratung Einfluß nehmen. Die Verwaltung wird von einem Oberstadtdirektor geleitet, der Beamter ist. Dem Rat sitzt als Politiker der von ihm gewählte Oberbürgermeister vor, der aber nur repräsentative Funktionen hat.

Grundsätzlich birgt diese Verfassungsform die Gefahr, der Verwaltung de facto mehr Macht in die Hand zu geben als den von den Bürgern gewählten Politikern. Deshalb wurde wiederholt über eine grundlegende Reform nachgedacht.

Zwischen 1974 und 1976 war wieder ein solcher Zeitpunkt gekommen. Durch das Land Nordrhein-Westfalen tobten Reformdebatten. Und die Jusos gingen auch an diese Arbeit. Es lag nahe, in solchen Fällen zu ermitteln, wie die Systeme anderer Bundesländer funktionieren und wie die Erfahrungen mit ihnen sind.

Anderswo gibt es Magistrate, die vom Rat gewählt werden und die Verwaltung führen. Es gibt Länder, in denen die Bürgermeister vom Volk direkt gewählt werden und damit eine besonders starke Stellung einnehmen. Es gibt Zwischenformen.

Man war mit Studien und Diskussionen hinreichend beschäftigt. Die Jusos bevorzugten schließlich eine Form der Magistratsverfassung. Sie wiesen aber auch eindringlich darauf hin, daß im Zuge einer Reform mehr Elemente der direkten Demokratie einzuführen seien: Einwohnerbegehren und Einwohnerentscheid – also etwas, das Politiker in Deutschland fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

Die Jusos waren von einer Mehrheit in der Landes-SPD weit entfernt. Ihren Vorschlägen entgegen stand ein kompliziertes Verwaltungsausschuß-Modell, das nichts an der Zweigleisigkeit ändern, sondern ein zusätzliches Zwischen-Gremium einschieben wollte.

Herausgekommen ist bei diesem Anlauf zur Reform schließlich: nichts. Denn die SPD-Stadtdirektoren, vor allem des Ruhrgebiets, nahmen eine Schmälerung ihrer Macht nicht hin. Außerdem war auf dem Reform-Parteitag ein Ministerpräsidenten-Nachfolger für Heinz Kühn zu wählen. Und so etwas geht immer vor. Es hat 20 Jahre gedauert, bis ein neuer Anlauf zur Beseitigung der Zweigleisigkeit an der Spitze erfolgreich war.

1976 blieben in Köln von der nicht stattgefundenen Reform die schon vorher installierten neun Bezirksvertretungen übrig. Und da die Ausstattung mit ministrablem Personal immer und in jeder Partei knapp ist, gab es jetzt genügend Mandate auch über Juso-Vertreter auszuschütten.

Umstritten war von Anfang an der Einfluß, den diese örtlichen Parlamente haben sollten. Die Fraktion im Rat hätte sich über den Zuwachs an Mandatsträgern ja freuen können. Denn mit ihnen zusammen konnte der übermächtigen Stadtverwaltung ein verstärktes politisches Gewicht entgegengesetzt werden. Aber diese wollte von ihrer Macht nichts abgeben. So wurden die Bezirke von Anfang an mit sehr geringer Entscheidungskompetenz ausgestattet. Nicht jedes 100jährige Mütterchen konnte fortan den Blumengruß des Oberbürgermeisters empfangen. Dafür gratulierte jetzt ein Bezirksbürgermeister in persona.

11. Das Innenstadtkonzept – Basisdemokratie in Köln

Die im Kampf mit ihrem Rat erprobten Jusos der innerstädtischen SPD-Ortsvereine ließ das keineswegs resignieren. Sie gingen nun zusammen mit ihren Bezirksvertretern daran, der Verwaltungsvorlage „Konzept für die Kölner Innenstadt“ eine bürgernahe Alternative entgegenzusetzen.

Schließlich waren die Bezirke ihrer größeren Bürgernähe wegen eingerichtet worden. Ende 1976 wurde dann ein detaillierter Alternativ-Entwurf zum Innenstadtkonzept dem Parteitag der Kölner SPD vorgelegt.

Die altbekannten Forderungen sollten endlich in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden: Förderung des Wohnens, Zurückdrängen der Tertiärisierung (Versicherungen, Büros), Sanierungsschwerpunkte, keine weiteren Hochhäuser, Grünflächen, Verkehrsberuhigung, Fußgängerzonen.

Keiner wagte etwas dagegen einzuwenden. Fraktionsvertreter und Oberbürgermeister beteuerten: Wir stimmen vollkommen mit euch überein. Alles bis ins Detail richtig. Bloß – bitte beschließt das nicht. Denn das ist viel zu konkret. Wir können uns nicht voreilig festlegen lassen. Und außerdem müssen wir an die City-Funktion der Innenstadt denken. Mit dem Stichwort „City-Funktion“ ist ein allgemeiner Freibrief für städtebauliche Sündenfälle jeder Art gemeint. Und davon sollte die Zukunft noch einige bereithalten:

  • Bau des Ludwig-Museums und weitere Einkesselung des Doms,
  • überdimensionierte Hotelburgen samt Verschandelung des Heumarkts,
  • Slum-Auswüchse im zentralen Eigelstein-/Hansaring-Quartier,
  • neue gigantische Projekte wie der „Mediapark“,
  • Radfahrwege zu Lasten der Fußgänger statt zu Lasten der Autos.

Auch Unterlassungen erlaubt die „City-Funktion“: Der Verkehr in der Kölner Innenstadt ist katastrophaler denn je. Wirkliche Verkehrsberuhigung hat es nie gegeben. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe haben ihre miserable Qualität in den 30 Jahren seit 1966 um keine Spur verbessern können, nicht einmal um eine gesonderte Busspur. Ständige Tarifanhebungen sind die ultima ratio geblieben, mit der sich der jämmerliche Laden über Wasser halten muß.

Mehr Basisdemokratie in der Gemeinde: In Köln wurde sie bis jetzt nicht erreicht. Sie müßte gegen ein wasserdicht abgeschottetes Interessengeflecht von Politik, Verwaltung, Presse und lokaler Wirtschaft durchgesetzt werden. Denn, was ist von gewählten Räten zu erwarten, die sich in konkreten Dingen nicht von denen festlegen lassen wollen, mit deren Unterstützung sie eigentlich an die Bewältigung der Großstadtprobleme herangehen sollten?

Vielleicht möchten sie es ja schon und trauen sich nur nicht, es zu dürfen. Diese Stadtverordneten treten immer mit großer Geste auf, jeder ein Experte auf seinem Gebiet. In ihren abgeschlossenen Zirkeln haben aber nur wenige das Sagen – vor allem, wenn es um gewichtige Entscheidungen geht: Wie derzeit wieder die Verschwendung einer runden Milliarde für eine Investitionsruine zur Müllverbrennung in einem übersättigten Markt.

Der Parteitag – das oberste Organ der Kölner SPD – stimmte am 17. Dezember 1976 – gegen die beschwörenden Appelle von Amts- und Mandatsträgern – der Bezirksalternative zum Innenstadtkonzept der Verwaltung mit großer Mehrheit zu. In die Wirklichkeit umsetzen konnte er seine Beschlüsse nicht.