Grüner Höhenflug

Ref.: Friedrich Carl (Februar 2011)

 

Seit Monaten, parallel zum Sinkflug der schwarz-gelben Koalition, erfreuen sich die Grünen rasant anziehender Umfragewerte. Inzwischen erscheinen sie als neue Volkspartei auf Augenhöhe mit den Großparteien CDU/CSU und SPD. Gut  möglich, dass nach den nächsten Landtagswahlen die Grünen die eine oder andere ChefIn einer Landesregierung stellen werden. Wie ist diese Entwicklung zu deuten und was folgt daraus?

Die gängigste Erklärung, der auch einige führende Vertreter der Partei anzuhängen scheinen, lautet: Die Grünen sind mit einer programmatischen Öffnung zu bürgerlichen Wählerschichten, in Form der grün-schwarzen Koalitionen in Hamburg und an der Saar, für bürgerliche Mittelschichten salonfähig geworden. Die These ist kompatibel mit dem altbekannten Befund, die Grünen seinen „die neue FDP“. Der gleichzeitige dramatische Niedergang der FDP in den Umfragen seit ihrem Ausnahme-Bundestagswahlergebnis 2009 scheint eine solche Deutung zu bestätigen. Was für die Grünen aus alledem folgt: Bitte mehr von diesem Wundermittel! Doch sind die Grünen wirklich gut beraten, sich aus dem „linken Lager“ zu verkrümeln und eine strategische Positionierung zwischen den Lagern anzustreben? Ist das überhaupt eine realistische Option? Ich bezweifle es.

„Höhenflug“ dank Konfliktbereitschaft und außerparlamentarischer Aktion?

Die Gegenthese klingt schon schlüssiger: Die Auseinandersetzungen um die Atompolitik und Stuttgart21 mit den von ihnen mitgetragenen  außerparlamentarischen Mobilisierungen seien es, die den Grünen die Rekordumfragewerte bescherten. Da ist sicher etwas dran, aber ausreichend ist auch diese Erklärung nicht. In den letzten 30 Jahren gab es mancherlei außerparlamentarischen Bewegungen, doch erst 2010 kamen die Grünen erstmals bei einer Bundestagswahl über 10%. Noch etwas anderes muss im Spiel sein.

Die Freude sei den Grünen gekönnt, nach all den Jahren gegenüber den großen Parteien einmal in der Vorhand zu sein. Die CDU verzeichnet – wie die SPD – die niedrigsten Umfragewerte der Nachkriegszeit und für die FDP könnte sogar der Wiedereinzug in den Bundestag ungewiss werden. Der unvermutete hegemoniale Niedergang der CDU/CSU/FDP-Regierung trifft die Oppositionsparteien  unvorbereitet. Bis heute hegen sie keine Pläne für ein gemeinsames Projekt für einen Politikwechsel in Deutschland. In dieser verfahrenen Situation, die vor allem von einer vom eigenen Niedergang zutiefst gekränkten SPD zu verantworten ist, zeigen die Grünen pragmatische Politikfähigkeit und das scheinen ihre Wähler zu honorieren. Doch langfristige Verschiebungen der WählerInnenpotentiale folgen anderen, tieferen Kraftfeldern als Wahlarithmetik und politische Kuschellogik nahe legen.

Die politischen Parteien repräsentieren die Lebenserfahrungen und hegemonialen Bindungen wichtiger Schichten der Bevölkerung. Sie stehen für bestimmte Antworten auf die gesellschaftlichen und politischen Fragen der Epoche, und werden an deren Implementierung in der Tagespolitik gemessen. Plötzliche Veränderungen der Parteipräferenzen werden durch tagespolitische Ereignisse nur ausgelöst; ermöglicht werden sie durch sozialökonomische Plattentektonik und Veränderungen der kapitalistischen Akkumulationsdynamik. 

Für wen und wofür stehen die Grünen?

Die Grünen sind die bevorzugte Partei der modernen WissensarbeiterInnen. Ihre Mitglieder und WählerInnen haben das höchste Ausbildungs- und  Einkommensniveau und sie finden sich gehäuft in den städtischen Zentren qualifizierter Dienstleistungen wie Hamburg, Frankfurt, Köln und Stuttgart. Im Unterschied zu den Hoteliers, Steuerberatern und Handwerkern, den alten selbständigen Dienstleistungsschichten, die das Kernpotential der FDP ausmachen, sind Grünenanhänger meist abhängig beschäftigte Teamspieler, die in ihren Berufen verantwortlichen, oft kreativen Aufgaben nachgehen. Sie sind der qualifizierteste Teil der neuen, wissensökonomischen Produzentenklasse.

Anhänger und Mitglieder der Grünen sehen ihre Partei auf der linken Seite des politischen Spektrums. Eine Analyse von Partei- und Wahlprogrammen bestätigt diese Selbsteinordnung im Großen und Ganzen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die Grünen vor allem mit Umwelt- und Energiepolitik identifiziert. Doch wie die LINKE forderten die Grünen im Bundestagswahlkampf eine einmalige Vermögensabgabe der Millionäre zur Finanzierung der Krisenlasten. Schon im Europawahlprogramm 2010 hatten sie sich, von der Öffentlichkeit kaum registriert, für ihre Mitverantwortung für Hartz IV etwas gewunden entschuldigt. Das macht ihre Mitverantwortung für Hartz IV nicht ungeschehen, aber man würde sich wünschen, ähnliches von CDU/CSU, FDP und SPD zu hören. In ihren Hochburgen in Westdeutschland sind die Grünen die femininste Partei. Die Grünen sind auch die einzige Partei außer der LINKEN, in der es eine nennenswerte Opposition gegen den Afghanistankrieg gibt. Ihr Vorschlag eines „grünen New Deal“ schließt an wirtschaftspolitische Vorstellungen der LINKEN an. Mehr als alles andere stehen die Grünen für die ökologische und energiepolitische Wende.

Partei auch der grünen Bourgeoisie

Die Grünen sind auch die Partei der neuen grünen Bourgeoisie. Das ist die Gründergeneration, die in IT, Media, grüner Energieversorgung und anderen wissensintensiven Geschäften neue, überwiegend mittelständische Branchen auf die Beine gestellt hat. Habituell sind sie von „normalen“ Wissensarbeitern oft kaum zu unterscheiden, nach Einkommen, Vermögen und Einfluss aber der Bourgeoisie zuzurechnen. Diese kleine Schicht „aufgeklärter“ Entrepreneure hat eine sehr spezifische Stellung im Hegemonialsystem: Sie steht für die Lösung der ökologischen  Frage und für „intelli-genten“ sozialen Ausgleich im Rahmen des kapitalistischen Systems. Die grüne Bourgeoisie ist pragmatisch und hätte wohl gerne auch mit jeder anderen einflussreichen Partei angebandelt. Jedoch, es funktioniert irgendwie nicht. Trotz eines Hermann Scheer blieb die SPD im Herzen eine Partei der alten Industrien. Und die „Union hat die Mitte der Gesellschaft verlassen“, so resümiert Hermann Albers, Präsident des Bundesverband Windenergie die energiepolitischen Richtungsentscheidungen der Regierung. Die FDP erwähnt er gar nicht erst. Doch zu den LINKEN ist der ideologische und habituelle Abstand groß. So bleibt der grünen Bourgeoisie die Grüne Partei als politische Plattform.

Betrachten wir die langfristigen Veränderungen des deutschen Parteiensystems, so sehen wir zwei alte Volksparteien im Abwärtstrend: Von 1983 bis 2005 haben SPD und CDU je ungefähr ein Drittel ihres WählerInnenanteils verloren. Und wir sehen zwei junge, wachsende Parteien, die Grünen (1990: 5,1 %)und die LINKE (PDS 1990: 2,2 %), die beide 2009 erstmals über 10% landen konnten. Und dazu die Super Nova FDP, die nach dem Ausnahmewahlergebnis 2009 zu implodieren scheint. Per saldo ergibt sich daraus ein langfristiges strukturelles Anwachsen des linken Lagers, das sich intern dramatisch umgruppiert.

Die SPD ist heute hegemonial eingeschrumpft auf ihren alten Kern in der Industriearbeiterschaft plus dem zugelaufenen Anhang von Karrieristen und Lobbyisten. Ihr Problem ist, dass diese schrumpfende soziale Basis kein Projekt hat für die Gestaltung der Wissensökonomie. Auf politischer Ebene spiegelt sich das in einem Mangel an Alleinstellungsmerkmalen. Wenn wir Grüne und LINKE in einem Gedankenexperiment fusionierten, so hätte die SPD kein einziges fortschrittliches Alleinstellungsmerkmal, dass sie von dieser grün-wirklich-roten Partei unterschiede. Unter wissensökonomischen Bedingungen ist das zu wenig für eine tragfähige hegemoniale Position. Das ist der eigentliche Grund, warum es der SPD nicht gelingen will, die Führung des linken Lagers in die Hand zu nehmen, mit der sie die WählerInnen 2009 eigentlich noch einmal beauftragt hatten.  

Die LINKE hat von der SPD die Repräsentation der unteren sozialen Schichten übernommen, aber sie hat auch einen starken Stand bei den modernen Servicearbeitern in der öffentlichen Verwaltung und den Dienstleistungsunternehmen. Bei den Wissensarbeitern und den gewerkschaftlich orientierten Industriearbeitern sind es politisch besonders bewusste Minderheiten, die auf die LINKE setzen.

Linkes Lager wächst im Umbruch zur Wissensökonomie

Wachstum und Umstrukturierung des linken Lagers korrespondiert mit den seit den 70er Jahren wirksamen sozialökonomischen Basistrends:

·           Die Anteile der alten, industriegesellschaftlich geprägten Schichten der Erwerbstätigen sind rückläufig, vor allem der angelernten und Facharbeiter.

·           Der Anteil der hochqualifizierten Wissensarbeiter wächst schnell. In der unteren Hälfte der Qualifikationsskala machen sich neue Dienstleistungsberufe breit. Wissens- und Servicearbeiter sind keine gegensätzlichen Klassen; es handelt sich um die qualifikatorischen Pole der neuen Produzentenklasse.

·           Mit den Segmenten der neuen Produzentenklasse wächst auch der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen („Feminisierung der Arbeit“)

·           Eine große Zahl von Erwerbstätigen findet sich in die Erwerbslosigkeit abgedrängt. Zwischen dieser „Reservearmee“ und den festangestellten Vollzeit-Arbeit-nehmerInnen bewegen sich Millionen Erwerbstätige mit befristeter Beschäftigung, Teilzeitjobs, Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit, Minijobs bis hin zum 1€-Job in allen Schattierungen von Existenz- und Arbeitsplatzunsicherheit. 

Der Umbruch zur wissensökonomischen Produktionsweise bringt also für die verschiedenen Segmente der entstehenden neuen Produzentenklasse sehr unterschiedliche Lebenslagen und Erfahrungen hervor, deren politische Repräsentation den im industriellen Paradigma befangenen Parteien CDU/CSU, FDP und SPD immer weniger gelingt.

Das Wachstum von Grünen und LINKEN dagegen beruht auf ihrer jeweiligen Fähigkeit, die Erfahrungen und Erwartungen bestimmter Segmente der neuen wissensökonomischen Produzentenklasse zu repräsentieren. Die Stärken beider Parteien bieten dabei ein komplementäres Bild: Die Grünen dominieren bei den höher qualifizierten Arbeitnehmern,  die LINKEN dominieren bei den weniger qualifizierten sowie den Erwerbslosen; die Grünen sind auf dem Weg zur Volkspartei in Westdeutschland, die LINKEN sind es bereits in Ostdeutschland. Wählerwanderungsanalysen spiegeln eine bisher geringe direkte Konkurrenz zwischen beiden Parteien. Beide Parteien sind in ihren regionalen Hochburgen die femininste Partei. Den Grünen wird die ökologische Kompetenz, der LINKEN die soziale zugesprochen. Zusammen ergibt das die Kompetenz zu der sozial-ökologische Wende, für die beide Parteien eintreten.

Wenn an dieser Analyse irgendetwas richtig sein sollte, dann steht fest, dass die beiden Parteien es bisher noch nicht bemerkt haben. Die Grünen sind erleichtert, das Los der medial Stigmatisierten an die LINKE abgegeben zu haben und von der SPD nicht mehr als „Kellner“ tituliert zu werden. Und auch die LINKEN arbeiten sich noch vorzugsweise an der SPD ab.

Industriegesellschaftliche Eliten kompromisslos gegen sozial-ökologische Wende

Währenddessen sitzt die Große Krise den herrschenden Eliten des Bank-, Industrie- und Energiekapitals und den Vermögensbesitzern im Genick. Das anstehende Ende der Finanzialisierung und der Industriegesellschaft bedroht ihre Geschäftsmodelle.  Die unvermeidliche Entwertung des fiktiven Kapitals – des Anteils des weltweiten buchmässigen Kapitals, das durch keinen realwirtschaftlichen Profit gedeckt wird – bedroht ihr Vermögen. Alles andere sind sie bereit zu opfern: Sozialpartnerschaft, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bildung, Demokratie, Euro, EU – allles, alles, alles, nur nicht zahlen müssen für die fetten Jahre der Finanzialisierung! Die radikalisierte Elite ist stark und schwach zugleich. Stark ist sie, denn sie verfügt über die Kommandohöhen der Wirtschaft und Medien und ist mit Verbänden und Stiftungen tief in der Zivilgesellschaft verankert. Und sie stellt die Regierung und nutzt sie. Wie schwach sie zugleich ist, spiegeln die Umfragewerte eben dieser Regierung. In der Großen Krise wird es eng für die Hegemonie der Herrschenden.

Weder Grüne noch LINKE können unter diesen Umständen ihr Projekt ohne die Unterstützung der von der jeweils anderen Seite repräsentierten Schichten realisieren. Nach dem Ende der schwarz-grünen Koalition in Hamburg sagen heute 82% der Befragten: „Schwarz-grün passt nicht gut zusammen.“ Das hätte man vorher wissen können; aber so haben es wenigstens alle mitbekommen. Schwarz-grün war vor allem aus der mangelnden Führungsfähigkeit der SPD geboren. Wenn wie zu erwarten die SPD weiter schwächelt und die Grünen zulegen, dann wird aus Rosa-Grün unversehens Grün-Rosa werden – wenn es bei der SPD noch dazu reicht. Schon aus ganz taktischen Gründen sind Grüne und LINKE gut beraten, Tuchfühlung aufzunehmen. Wenn die Einschätzung richtig ist, dass beide Parteien auf langfristigen sozialökonomischen Trends reiten und wenn  beide Parteien ihrem Projekt treu bleiben, werden allein schon die Zugzwänge der politischen Praxis beide Parteien auf einander zu führen.

Fragen an die Grünen

Doch wie viel Konfliktfähigkeit besitzen die Grünen im Angesicht einer von allen guten Geistern verlassenen herrschenden Klasse?  Was bleibt vom „Green New Deal“, wenn das Kapital mobil macht? Wie viel politischen Verstand besitzen Spitzen-Grüne, die von schwarz-grünen Bündnissen träumen? Wie viel Größenwahn wird der aktuelle Höhenflug bei den Grünen auslösen? Wie tief sitzt die neoliberale Infektion der Grünen? Wie verlässlich sind Bundesgenossen von der grünen Bourgeoisie? Wir wissen das alles nicht; der Apfel erweist sich beim Essen.

LINKE darf aufhören, auf die SPD zu starren

Und wie ist es mit der LINKEN bestellt? Die schaut auf die SPD, wie das Kaninchen auf die Schlange. Im 20. Jahrhundert war der Antireformismus das Markenzeichen der radikalen Linken. Reformismus: Das war die Gestaltung sozialen Fortschritts durch Nutzung der den Herrschenden abgerungenen Anteile am Produktivitätszuwachs, der „asym-metrische Klassenkompromiss“. Heute ist dieser Reformismus tot und seine Partei, die SPD, ist schwer krank. Heute brauchen die Herrschenden den ganzen Produktivitätszuwachs (und mehr), um die Profitraten zu stabilisieren, basten. Um ihre eigenen Chancen zu erkennen, sollten die LINKEN aufhören, auf die SPD zu schauen und sich lieber fragen, was denn nach ihr kommen wird. Eine kritische und konkurrenzierende Auseinandersetzung mit den Grünen wäre sehr viel zukunftsträchtiger und wird schliesslich auch zu einer klareren Sicht auf gemeinsame Ziele beitragen.

Zurück zum Höhenflug der Grünen. Die vorübergehenden Koalitionen mit der CDU haben nicht den Grünen geschadet, vielmehr haben sie beigetragen die alte Ausgrenzung der Grünen an der CDU-Basis zu zerstreuen. Die außerparlamentarischen Bewegungen gegen die Atompolitik und Stuttgart 21  haben ihnen genutzt. Aber wieso so viel Nutzen und wieso gerade jetzt? Die linke Hälfte der Gesellschaft – tendenziell die Mehrheit – leidet unter der Führungslosigkeit des linken Lagers. Frech bedient die schwarz-gelbe Regierung ihre Klientel, und die Opposition protestiert,  bringt aber keine machtpolitische Alternative zustande. Verdient oder nicht – für viele Menschen ist im Laufe des Jahres 2010 der Eindruck entstanden, dass die Grünen in der Lage wären, eine führende Rolle im linken Spektrum einzunehmen und sind bereit, sie zu erproben.

Was 2010 begonnen hat, ist der Prozess der „Abwahl“ der SPD aus ihrer glücklosen Führungsrolle im linken Lager, und dies wird sich bei den anstehenden Landtagswahlen fortsetzen.