Wer arm ist, stirbt früher

Die Bundesrepublik leistet sich eine Zwei-Klassen-Medizin. Dabei geht es nicht um das Einzelzimmer

von UTA ANDRESEN

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist ungerecht, davon waren in einer Emnid-Studie 69 Prozent der Befragten überzeugt. Das ist sie. Dabei geht es nicht um Kassen- oder Privatpatient, nicht um Mehrbettzimmer oder Händedruck des Chefarztes. Es geht darum, dass Menschen früher zu Tode kommen, weil sie ärmer sind als andere. Wer zum einkommensschwächsten Viertel der Deutschen gehört, stirbt – statistisch gesehen – sehr viel früher als jemand aus dem reichsten Viertel, Männer zehn Jahre früher, Frauen fünf. Besonders betroffen sind Obdachlose, Erwerbslose, Alleinerziehende, Kinder bis zu 15 Jahren und Migranten. Das ergab das so genannte Sozioökonomische Panel, eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über die Zeit von 1984 bis 1997.

„In der Krankenversorgung werden Menschen aus den gebildeten Stän-den nach wie vor häufig besser versorgt als sozial Benachteiligte“, sagt Rolf Rosenbrock, Professor für Gesundheitspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin und Berater der Bundesregierung. Ein Umstand, der durch die neuen Direktzahlungsregeln noch verschärft werde: „Absehbar werden speziell arme Menschen von der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems abgeschreckt.“

Risikogruppe: Obdachlose

Besonders hoch ist der Krankenstand unter den Obdachlosen – hier gelten etwa 90 Prozent als dringend behandlungsbedürftig, sagt Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedizin an der Fachhochschule Nürnberg. Meist geht es um akute oder chronische Infektionen, innere Erkrankungen, Haut- und Suchtleiden, Unfallverletzungen und marode Zähne. „Die hohe Erkrankungsrate ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen“, sagt Trabert. „Zum einen spielen der übermäßige Alkohol- und Zigarettenkonsum und eine nicht ausgewogene Ernährung eine wichtige Rolle. Zum anderen haben viele Wohnungslose früher stark körperlich gearbeitet und sind deshalb gesundheitlich besonders belastet. Hinzu kommen negative Stressfaktoren wie der Verlust durch Tod, Scheidung, Trennung von Familienmitgliedern und Freunden oder Arbeitslosigkeit.“

Gleich danach kommt die Gruppe der Erwerbslosen. Ihre Sterblichkeit ist um das 2,6-fache höher als die von erwerbstätigen Menschen. Jeder dritte zeigt typische Stresssymptome wie Muskel-Skelett-Erkrankungen oder psychische Störungen, ergab eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder die Gefahr, einen Unfall zu erleiden, gelten in dieser Gruppe als doppelt so hoch. Die Depressions- und Suizidrate ist um das 20-fache erhöht. Die Ursache sieht der Sozialmediziner Trabert unter anderem in dem „starken negativen Stress, dem Arbeitslose ausgesetzt sind“.

Der trifft auch Alleinerziehende und führt vermehrt zu Kopf- und Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit, Kreislaufproblemen, Depressionen, Magenerkrankungen oder Erkrankungen der Atmungsorgane. Eine direkte Folge der täglichen Überforderung durch die alleinige Verantwortung für Job und Familie, meinen Sozialmediziner.

Risikogruppe: Kinder aus armen Familien

Etwa eine Million Kinder in Deutschland bekommen es körperlich zu spüren, dass ihre Eltern weniger verdienen als andere. Ihr Impfschutz ist meist unzureichend – bei über 30 Prozent der Kinder von arbeitslosen Eltern war das nach einer Studie des Gesundheitsamtes Göttingen der Fall. Hinzu kommen vermehrt Infektionskrankheiten, Asthma, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Entwicklungsstörungen, weil die Kinder als Frühgeburten auf die Welt kamen. Und in der Regel durch Karies zerstörte Gebisse, sagt Michael Noack, Professor an der Poliklinik für Zahnerhaltung der Universität Köln. Ein Problem nicht nur kosmetischer Art: Viele Folgeerkrankungen wie Herzschwäche oder Frühgeburten haben Karies als Auslöser. Als Ursachen für die Belastungen sehen Sozialmediziner das mangelnde Vorsorgeverhalten der Eltern sowie schlechte Ernährung an – nach der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist ausgewogene Kost vom Sozialhilfesatz kaum zu bezahlen.

Bei der Risikogruppe Migranten fallen psychosomatische und psychische Störungen, Infektionskrankheiten und ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Arbeits- und Verkehrsunfällen auf. „Traumatisierungen, die nicht adäquat berücksichtigt werden, spielen häufig eine Rolle. Außerdem verhindern Verständigungsprobleme beim Arzt die sinnvolle medizinische Versorgung. Wir brauchen einen medizinischen Dolmetscherdienst nach niederländischem Vorbild“, fordert der Sozialmediziner Gerhard Trabert.

Gesundheitsversorgung in Deutschland scheint offensichtlich an der aufgeklärten, selbstverantwortlichen Mittelschicht orientiert zu sein. „Was wir brauchen, sind niederschwellige Angebote in den sozialen Brennpunkten“, sagt Trabert. Etwa der Impfabend im Gemeindezentrum, das Arztmobil, das zu den Obdachlosen fährt oder die Kurzzeitbetreuung für Kinder, damit Alleinerziehende zum Arzt gehen können. Auch maßgeschneiderte Kampagnen könnten sozial Benachteiligte dazu bewegen, Früherkennungsmaßnahmen wahrzunehmen, meint Gesundheitsökonom Rosenbrock. Zudem sollte laut Trabert Gesundheitsaufklärung eine größere Rolle an Schulen spielen. „Für all das müsste der öffentliche Gesundheitsdienst ausgebaut werden.“ Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Die meisten Länder und Kommunen ziehen sich mit ihren Diensten zunehmend aus der direkten öffentlichen Versorgung zurück.

 

Zuerst erschienen am 18.05.2004 in „publik“, der Mitgliederzeitung der Gewerkschaft ver.di