Von Antonia Kühn und Alexander Recht
Dieser Artikel entstand im Kontext einer Selbstverständnisdiskussion zukünftiger linker Politik im Rheinland. Der Artikel ist ausdrücklich als Input in den Diskussionsprozess zu verstehen. Er soll keine Entscheidungen vorweg nehmen, sondern die Diskussion mit Hilfe der Formulierung einer Position anregen.
Wandel von Gesellschaft und Politik
Unsere Strömung ist mit einem Wandel von Gesellschaft und Politik konfrontiert, aufgrund dessen sie ihr Selbstverständnis klären muss. Wesentlich ist dabei die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Produktionsweise hin zum flexiblen Kapitalismus. Seine Entstehung ist zum einen Folge von IT-Innovationen, die eine zeitnahe Organisation der Produktion in Abhängigkeit von der Nachfrage („just in time“) ermöglichen, um Kapitalumschlag und -verwertung zu erhöhen. Diese qualitative Änderung wird ergänzt um eine quantitative Steigerung altbekannter Maßnahmen zur Erhöhung der Profite. Lohndruck, Kostensenkung und Rationalisierung gab es schon immer, aber erst der politische Abbau und die Deregulierung der Rechte der Lohnabhängigen im Zuge eines weltweiten Abwertungswettlaufs „nationaler Wettbewerbsstaaten“ haben dieser Entwicklung Bahn geebnet.
Ähnliches gilt für die transnationale Politik von Unternehmen, bei der die weltweiten Produktionsorte und Absatzmärkte stärker als früher vernetzt genutzt werden. Die IT-gestützte verbesserte Logistik spielt da sicher eine Rolle, aber auch hier gilt, dass ohne die politisch gewollte Liberalisierung von Handel und Direktinvestitionen eine solche Dynamik nicht zustande gekommen wäre.
Zudem werden überschüssige Gewinnmassen auf den weltweiten Finanzmärkten angelegt, weil die politisch beabsichtigte Lohnsenkung und staatliche Ausgabenreduktion die Binnennachfrage schwächt und so die Profitrealisierung gefährdet. Diese durch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs verstärkte Tendenz setzt nicht nur die reale Kapitalverwertung unter Druck, sondern sorgt auch für Kapitalströme, die ganze Volkswirtschaften bedrohen können.
Es liegt im Wesen des Kapitalismus, dass das Kapital danach strebt, größtmöglichen Mehrwert zu erzielen und alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche der Verwertung zu unterwerfen. Dies ist eines der Motive für die Privatisierung öffentlicher Angebote und kollektiver Sicherungssysteme, die das gesamte Kapital von Kosten entlasten und Teilen des Kapitals zusätzliche Verwertungsfelder eröffnen soll.
Dieser flexible Kapitalismus ist für die Lohnabhängigen zum einen, wie geschildert, mit einem drastischen Abbau ihrer Rechte, zum anderen aber auch mit erheblichen Änderungen ihres Arbeitsablaufs verbunden, um ihre Produktivkraft zwecks Profitsteigerung zu erhöhen. Für Lohnabhängige in qualifizierten Positionen kann dies zum Teil größere Gestaltungsspielräume bedeuten, auch wenn die Projektvorgaben noch immer vom Arbeitgeber gesetzt werden. Für die meisten Beschäftigten hat sich jedoch nichts daran geändert, dass sie machen müssen, was der Chef sagt. Letztlich alle Lohnabhängigen sind indes einer zunehmenden Destabilisierung ihrer Lage ausgesetzt: Hoher Anforderungsdruck für höher Qualifizierte und Prekarisierung der unteren Lohngruppen, Druck auf das gesamte Lohngefüge, die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und Repressionen gegen Arbeitslose sind Erscheinungsformen des flexiblen Kapitalismus. Es ist daher berechtigt, von einer Ökonomie der Unsicherheit der Lohnabhängigen zu sprechen.
Es ist wichtig, den Zusammenhang von ökonomischer Dynamik und Politik zu beachten. Falsch wäre es, alle gesellschaftlichen Änderungen neoliberaler Politik zuzuschreiben. Denn so würde verkannt, dass die Politik von der ökonomischen Dynamik der Wertgesetzlichkeit wie auch dem Treiben großer Konzerne unter Druck gesetzt wird. Genauso falsch wäre es jedoch, Geschichte als nicht steuerbaren oder gar automatischen Prozess zu verstehen. Vielmehr sind die angeführten Entwicklungen maßgeblich auf die nicht naturnotwendige kapitalfreundliche Angebotspolitik in den meisten Nationalstaaten Europas und in den EU-Instanzen zurückzuführen. Entwickelt wurde sie von den bis Mitte der 90er Jahre dominierenden konservativen Parteien Europas. Leider ist jedoch der große Politikwechsel bei den folgenden sozialdemokratisch geführten Regierungen ausgeblieben. Dies gilt auch für die BRD.
Rechtsruck der SPD
Nach sechzehn Jahren Regierung Kohl hatte die politische Linke große Erwartungen in den Regierungswechsel 1998 gesetzt. Jahrelang zuvor formulierte Forderungen an die Politik schienen nun realisierbar. Rot-Grün startete mit einzelnen Gesetzen wie der 100%igen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gut, so dass der Eindruck entstand, mit dem Regierungswechsel fände auch ein Politikwechsel statt.
Spätestens jedoch mit Lafontaines Rücktritt und der zeitgleich stattfindenden inhaltlichen Machtverschiebung innerhalb der SPD wurden die Illusionen der Linken zerstört. Ein Rechtsruck hielt Einzug, dem kaum noch Alternativen entgegen gesetzt wurden. Im öffentlichen Diskurs werden marktgläubige Behauptungen als Wahrheiten dargestellt und nicht hinterfragt. Es wird überhaupt nicht mehr diskutiert, ob es sinnvoll ist, die öffentliche Kreditaufnahme auf Null zurückzuführen. Die ökonomisch kontraproduktive Sparpolitik wird als notwendig vorausgesetzt – es geht dann nur noch um die Frage der Umsetzung. Ebenso wird die Notwendigkeit von Militäreinsätzen, die einst als inhuman angesehen wurden, nicht mehr angezweifelt. Ausgerechnet die rot-grüne Regierung führt Angriffskriege und forciert Auslandseinsätze. Auch ist sie es, die die Rente teilprivatisierte und für Leistungskürzungen, verschärfte Zumutbarkeitsregelungen, Ausweitung des Niedriglohnsektors und privatisierte Arbeitsvermittlung à la Hartz verantwortlich ist.
Uneinheitlichkeit in der sozialistischen Linken
Dass die sozialistische Linke in der SPD angesichts der Veränderungen in Ökonomie und Politik und der Wandelungen der Sozialdemokratie frustriert und orientierungslos ist und keine einheitlichen Antworten präsentieren kann, verwundert nicht. Uneinheitlichkeit ist z.B. auch feststellbar in der Bonner Runde, dem bundesweiten Zusammenhang linkssozialistischer Jusos. Wenngleich in vielen inhaltlichen Fragen Übereinstimmung herrscht, so sind auch Differenzen festzustellen, die teils inhaltliche, vor allem aber strategische Fragen betreffen.
Strittig ist etwa, wie die Rolle der Subjekte im flexiblen Kapitalismus zu bewerten ist. Ist mit der Neuausrichtung der Produktion die Entfaltung eines stärker aufgeklärten Bewusstseins verbunden, oder verhindert das Direktionsrecht des Kapitals emanzipatorische Prozesse der Menschen? Handelt es sich um Zeitsouveränität der Lohnabhängigen oder nicht doch um eine vom Kapital aufgezwungene schädliche Flexibilisierung, die über gesellschaftliche Vermittlung als „hip und modern“ verbrämt wird?
Auch die Frage der Artikulationsform politischer Forderungen ist unklar: Manche sind der Auffassung, man müsse möglichst radikal und über das Bewusstsein der Subjekte hinausgehend fordern, während andere die Notwendigkeit betonen, am noch unreifen Bewusstseinsstand der Bevölkerung anzusetzen und – unter Hinweis auf die Notwendigkeit systemüberwindender Politik – Reformforderungen zu formulieren.
Unklar ist auch die Haltung zur SPD: Ist sie noch die Kraft, auf die LinkssozialistInnen orientieren sollten; oder bietet sie nur noch wenig Einflussmöglichkeiten, die ein Engagement in ihr lohnend machen? Sicher: Eine soziale Erneuerung der Gesellschaft ist ohne die SPD kaum möglich. Die SPD bewegt sich aber nur bei gesellschaftlichem Druck und innerparteilicher linker Mobilisierung. Die Möglichkeiten für Letztere haben sich jedoch in der Vergangenheit äußerst begrenzt erwiesen. Vielmehr scheint die SPD das Projekt der Zivilisierung des Kapitalismus nicht mehr ernsthaft zu verfolgen, von der Emanzipation der Menschen ganz zu schweigen. Es ist daher nicht selbstverständlich, wo LinkssozialistInnen ihre Energien optimal einsetzen: in der SPD, weil es ohne sie nicht geht, oder doch in anderen sozialistischen Parteien und in sozialen Bewegungen, weil nur diese den nötigen gesellschaftlichen Druck entfachen? Wenn Bischoff und Detje, Redakteure der Zeitschrift „Sozialismus“, zur Frage der Parteiorientierung seufzen: „Wir gehören auch zu jenen Verwirrten“, stehen sie in der Linken sicher nicht allein.
Die Skepsis vieler linker Jusos gegenüber der SPD-Orientierung ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass der Juso-Verband, der zuweilen als Insel der Vernunft im sozialdemokratischen Meer fehl interpretiert wurde, selber nach rechts gerückt ist. Der neoliberale gesellschaftliche Diskurs hat eben nicht nur den politischen Alltag bei der SPD, sondern auch bei den Jusos geprägt. Hier zeigt sich ein zunehmender Wandel der Jusos weg vom sozialistischen und feministischen Richtungsverband hin zur Regierungsjugend. So nehmen unsere Einflussmöglichkeiten über die gewohnten Wege ab und stellt sich die Frage, wie wir künftig politischen Einfluss nehmen wollen.
Unsere Strömung als Basis der Zukunft
Bei der Klärung dieser Fragen brauchen wir unsere Strömung im Rheinland als handelnde Gruppe, die sich aufeinander bezieht und ihre Stärke auch in der gemeinsamen politischen Erfahrung hat. Hierbei ist der regionale Zusammenhang eine wichtige Basis, um gemeinsam Diskussionen jenseits des neoliberalen Diskurses zu führen. Dieser Zusammenhang bildet die Grundlage, von der aus wir uns in den verschiedensten Strukturen von den Jusos über Attac, Gewerkschaften bis hin zu sozialen Bewegungen aktiv einbringen, um für eine bessere Welt zu streiten und langfristig den Kapitalismus zu überwinden.
Dabei muss die Frage der Parteiorientierung nicht mit einem absoluten „Entweder – Oder“ beantwortet werden. Weder ist es notwendig, einen kollektiven Austritt aus der SPD, noch eine geschlossene Mitgliedschaft in SPD oder auch PDS zu fordern. Eine solche Ausschließlichkeit würde zur Privatisierung derjenigen führen, die den Schritt nicht nachvollziehen können oder möchten.
Vor dem Hintergrund einer wohl kaum zu vermeidenden stärkeren Verteilung politischer Aktivität gewinnt die gemeinsame Praxis der Strömung an Gewicht. Der Rückblick auf unsere bisherige Arbeit zeigt, dass jene Vorhaben erfolgreich waren, bei denen die interne Kommunikation gut funktionierte und die Spaß machten, indem selbst erarbeitete Forderungen kompetent in öffentlichkeitswirksamen Aktionen nach außen getragen wurden. Hier müssen wir anknüpfen! Der Anfang liegt in einer gemeinsamen thematischen Schwerpunktsetzung mit öffentlichkeitswirksamem Auftritt.
Ohne den Zusammenhalt der Strömung als handlungsfähiger und entscheidender Gruppe ist eine parallele Entwicklung wie beim Sozialistischen Hochschulbund, der sich Anfang der 90er Jahre auflöste, zu erwarten. Wir haben die Chance, aus dieser Erfahrung zu lernen, und sollten sie nutzen. Um so deutlicher wird die Notwendigkeit eines internen Klärungsprozesses, den wir nur gemeinsam gehen können!