von FRIEDRICH CARL und PAUL OEHLKE
Die gegenwärtige Systemkrise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus verlangt gesellschaftliche Alternativen, die von der politischen Klasse in Deutschland bisher kategorisch bestritten worden sind. Dies gilt insbesondere für die sozialdemokratischen Parteiführungen seit Ende der 1990er Jahre, die sich seit dem Rücktritt Lafontaines auf der neoliberalen Überholspur bewegen – mit der faktischen Liquidierung der eigenen sozialstaatlichen Tradition zugunsten der Steigerung globaler Konkurrenzfähigkeit durch rigoroses Lohn-, Sozial- und Steuerdumping. Der Standortwettbewerb stellt seinem gesellschaftspolitischen Inhalt nach eine weltweite Umverteilung zugunsten der Kapitaleigentümer dar. Sie tritt in verschlechterten Arbeits-, Umwelt- und Lebensbedingungen der lohnabhängigen Massen ebenso in Erscheinung wie im steigenden Luxuskonsum herrschender Klassen, öffentlicher Armut und einer sich weltweit vertiefenden Wirtschaftskrise.
Mit dem nordischen Modell, das sich in den letzten Jahrzehnten als in vieler Hinsicht erfolgreichster eigenständiger Entwicklungspfad im westlichen Kapitalismus etabliert hat, existiert in unserer unmittelbaren Nachbarschaft jedoch eine Alternative. Sie widerlegt viele der hierzulande gängigen neoliberalen „Weisheiten“ durch den großen praktischen Erfolg des Gegenteils. Als strukturelle Kennzeichen des Nordischen Modells hatten sich bereits bis Mitte der 70er Jahre herausgeschält:
- starke Gewerkschaften und politische Organisationen der Linken;
- eine solidarische Lohnpolitik und ein großes Maß an Gleichheit;
- umfassende soziale Sicherheit durch einen ausgebauten Sozialstaat;
- hohe Steuern und Abgaben mit einer vergleichsweise hohen Staatsquote;
- Spitzenwerte öffentlicher Beschäftigung und weiblicher Erwerbsarbeit;
- entwickelte gesellschaftliche Infrastrukturen für Bildung und Wissenschaft;
- offene und flexible, wettbewerbsfähige und exportstarke Ökonomien.
Nach neoliberaler Ansicht hätten soziale Gleichheit und starke Gewerkschaften, hohe Steuer- und Staatsquoten unweigerlich zum wirtschaftlichen Desaster führen müssen. Von wegen! Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der nordischen Länder ließ das wirtschaftlich stagnierende und sozial rückständige Deutschland inzwischen weit hinter sich. Das lässt sich an „harten“ ökonomischen Zahlen ebenso belegen (BIP pro Einwohner, Wachstum, Staatsvermögen) wie an weicheren Indikatoren, z.B. der vorbildlichen sozial- und bildungspolitischen Versorgung. Auch in den letzten 15 Jahren haben die nordischen Länder ihre öffentlichen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge kräftig personell ausgebaut und qualitativ modernisiert. Im Gegensatz zu den negativen Ergebnissen der für Deutschland besonders charakteristischen Selektion in Familien-, Schul- und Arbeitsmarktpolitiken und der entsprechend als leistungsförderlich propagierten gesellschaftlichen Differenzierung können die nordischen Länder nicht nur auf überragende Rankings in diversen statistischen Erhebungen von der UN bis zur OECD nach Human- und Sozialindikatoren (menschliche Entwicklung, Lebensqualität, soziale Gleichheit, Gleichstellung der Geschlechter, demokratische Beteiligung), sondern auch nach Wettbewerbs- und Entwicklungskriterien (Bildung, Forschung, Innovationen, Abwesenheit von Korruption, Reformfähigkeit usw.) verweisen.
Vor diesem Hintergrund besagt unsere These, dass die gesellschaftlichen Gleichheits-, Sozialstaats- und politischen Interventionspraxen der nordischen Länder entscheidend zu ihrer hohen wirtschaftlichen Innovations- und Leistungsfähigkeit beitragen. Hierüber geben detaillierte Hinweise: aktuelle, am schwedischen Beispiel orientierte Szenarios der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Broschüre Zukunft 2020 – ein Modell für ein soziales Deutschland, die Januarausgabe 2009 der WSI-Mitteilungen zum nordischen Modell unter Anpassungsdruck und vor allem das Supplementheft der Maiausgabe 2009 der Zeitschrift Sozialismus zum nordischen Modell – eine Alternative? Als eine zweite Lehre ist zu nennen: Der große Reichtum der Gesellschaften des Nordens beruht auch auf einer langanhaltenden Fokussierung auf die öffentlich und auch betrieblich geförderte Entwicklung der Produktivkräfte, vor allem die wichtigste darunter: das Humanvermögen. In diesen Ländern gelten eine umfassende Daseinsvorsorge und Bildung nicht nur als „Wohltaten“, sondern als zunehmend bedeutsamer werdende Voraussetzungen einer funktionsfähigen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei hat sich die Linke in diesen Ländern nicht nur um die Verteilung gekümmert, sondern auch darum, den Kuchen durch wachsende Produktivität größer zu machen!
Nicht nur Neoliberale haben es schwer mit dem Nordischen Modell; auch manche SozialistInnen in Deutschland fühlen sich in Glaubensgewissheiten gestört, wenn soviel sozialer Fortschritt innerhalb der kapitalistischen Formation, wenn auch einer gesellschaftlich gebändigten, möglich ist. Wie auch immer – Tatsachen muss man anerkennen! Trotzdem hier ein Trostpflaster: Das Nordische Modell ist nicht als reformistischer Gesellschaftentwurf auf dem Reißbrett entstanden, sondern in jahrzehntelangen, oft harten sozialen Kämpfen. Und die Linken in diesen Ländern haben auch heute noch Visionen, die bisher nicht verwirklicht werden konnten.
Unter den Bedingungen der globalen Restrukturierungskrise des Kapitalismus ist das nordische Modell der bisher erfolgreichste Ansatz zu einer intensiv erweiterten gesellschaftlichen Reproduktion. Diese Realität wurde bis vor kurzem vernebelt durch den spekulativen Boom der Finanzbranchen, die weltweite extreme Überbewertung der Vermögenswerte sowie das hohe extensive Wachstum in Asien und Osteuropa. In dem Maße wie diese Hot Spots der Kapitalakkumulation abkühlen oder schlicht implodieren, werden sich die Perspektiven entwickelter Länder weiter ausdifferenzieren zwischen einer human und sozial orientierten Reformpolitik mit einem starken öffentlichen Sektor und andererseits regressiven Krisenlösungsstrategien auf Kosten der lohnabhängigen Klassen in aller Welt. In einem solchen Szenario sind die nordischen Länder ernsthaft zu studierende Brückenköpfe einer fortgeschrittenen sozialen Realität, die anderswo erst noch erkämpft werden muss.
Hierbei ist anlässlich des 60. Jahrestages unseres Grundgesetzes eine nunmehr zukunftsorientierte Einsicht in seine beiden unveränderlichen Verfassungsartikel (nach Art. 79 Abs. 3) auch in Bezug auf Lösungsmöglichkeiten der gegenwärtigen Systemkrise hilfreich: die Garantie der unantastbaren Würde des Menschen (Art. 1 GG) in einem demokratischen und sozialen Bundesstaat (Art 20 GG). Diese herausgehobenen Verfassungsgrundsätze bieten mit der Gemeinwohlverpflichtung des privaten Eigentums und der Möglichkeit seiner Enteignung und Vergesellschaftung (Art 14, 15 GG) einen normativen Gestaltungsrahmen für eine sich selbst bestimmende Gesellschaft, das heißt auch eine Perspektive sozialer und demokratischer Transformation.