Anmerkungen zu den neuen Juso-Thesen
von UWE KREMER
Bei der Vorlage der „Thesen zu jungsozialistischer Politik – Für eine Linke der Zukunft“ handelt es sich in mehrfacher Hinsicht um einen bemerkenswerten Vorgang. Mit einem klaren Bekenntnis zu einer kapitalismuskritischen und sozialistischen Grundsatzposition stellt sich der Verband erneut in die Tradition der sog. Linkswende aus dem Jahre 1969. Das sind fast 40 Jahre, eine Kontinuität, ohne die auch die heutige Linke in der SPD nicht denkbar wäre und zu der sicherlich auch diese Zeitschrift erheblich beigetragen hat. Und es hat – bei Lektüre des Papiers, mit Blick auf die beeindruckende zentrale Tagung der Jusos Anfang Juni und angesichts des Selbstbewusstseins an der Juso-Spitze – schon etwas außerordentlich Beruhigendes, dass diese Kontinuität auch für die nächsten Jahre gesichert zu sein scheint.
Hierin drückt sich wohl auch – unabhängig von Parteiorientierungen – eine Tendenz in Teilen der nachwachsenden Generation aus: Jenseits eines eher punktuellen und diffusen gesellschaftskritisch en Engagements ist ein wieder verstärktes Interesse an grundlegenderen Auseinandersetzungen mit den herrschenden Verhältnissen – und ergo auch an der Marx`schen Theorie – zu verzeichnen.
Es ist gut, dass dies auch die Sozialdemokratie er reicht hat. Es ist insbesondere auch gut für eine SPD-Linke, die in den heutigen Gemengelagen ein so klägliches Dokument wie das neue SPD-Grundsatzprogramm schon als Erfolg verarbeiten muss.
Es zeichnet den „Geist“ der Thesen insbesondere aus, dass darin wieder das Spannungsverhältnis thematisiert wird, dass zwischen einer Perspektive jenseits des Kapitalismus und dem Leben und Arbeiten im „Hier und Jetzt’“ besteht – und zwar nicht nur als ein allgemein-politisches Spannungsverhältnis, sondern als eines das auch und gerade die einzelne Person betrifft (s. die abschließende These 63). Denn dies ist eine Grundvoraussetzung für jedwede intellektuelle und politische Produktivität von Sozialistinnen und Sozialisten. Umso mehr will ich mich im Rahmen dieses kurzen Diskussionsbeitrages der Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses in den Thesen etwas ausführlicher und kritischer widmen.
Die Autorinnen und Autoren kritisieren in der These 6 die Juso-Linken von Anfang der 90er Jahre, die sich – vor dem Hintergrund der damaligen „53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus“ – zur Aufgabe gesetzt hatten, „in den ökonomischen, sozial-kulturellen und politischen Verhältnissen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die Grundlagen für einen entwickelten Sozialismus so weit wie möglich auszubauen“. Denn: „In dieser Vorstellung verwischten sich die grundlegenden Unterschiede zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft.“ In den neuen Thesen wird hingegen die „Totalität“ des Kapitalismus betont, der mit seiner ihm innewohnenden Logik und Dynamik alle menschlichen Lebensbereiche und Beziehungen durchziehe und auch seine Gegnerschaft determiniere (s. These 9). Daran anknüpfend ist man in These 30 dann der Meinung, „dass wirkliche Solidarität, Gleichheit und Humanität erst auf der anderen Seite des Zauns auf uns wartet.“
Zwei Vergesellschaftungslogiken
Meines Erachtens handelt es sich hierbei um eine sehr schematische, politisch wenig orientierende Sichtweise der Dinge. Ich bin nicht der Meinung, dass der Sozialismus jenseits irgendeines Zaunes bzw. im Jenseits auf uns wartet, sondern – durchaus im Marx’schen Sinne – dass eine Gesellschaftsformation erst dann untergeht, wenn sich in ihrem Schoß die Elemente der neuen Gesellschaft schon entwickelt haben. Dabei koexistiert der Kapitalismus mit seiner zweifellos dominanten Verwertungslogik mit anderen Vergesellschaftungslogiken.
Dies meinte Marx, als er im 19. Jahrhundert die Verkürzung des Arbeitstages als Sieg der Politischen Ökonomie der Arbeiterklasse über die des Kapitals bezeichnete.
So stand der Sozialstaat des 20.Jahrhunderts zumindest in seinen entwickelten Ausprägungen, in denen er riesige Anteile des gesellschaftlichen Reichtums der kapitalistischen Verwertungslogik entzieht und in eigene Dienstleistungs- und Versorgungsstrukturen einspeist, für eine andere, nämlich gemeinschaftliche Vergesellschaftungslogik.
Er war einerseits mit einer Produktivkraftentwicklung verbunden, die Massenproduktion und Massenkonsum – den „Fordismus“ – ermöglichte.
Andererseits war er starken Massenorganisationen der Arbeiterbewegung geschuldet.
Hierbei zeigte sich aber, dass sich diese Logik der „Gemeinschaftlichkeit“ nicht nur als demokratische Selbstbestimmung, sondern auch als bürokratische Massenverwaltung artikulieren ließ und sie auch in erheblich em Maße mit der Akzeptanz der Natur und Lebensräume zerstörenden Seiten des „Fordismus“ einherging.
Die Behauptung des „Modernen Sozialismus“ ist nun die,
- dass es auch im 21. Jahrhundert erforderlich und möglich ist, eine gemeinschaftliche Vergesellschaftungslogik schon im Rahmen der kapitalistisch dominierten Gesellschaftsformation zur Geltung zu bringen,
- dass sie sich durch eine wesentlich stärkere demokratisch-selbstbestimmende, ökologische und hinsichtlich der Lebensräume plurale Ausprägung auszeichnen wird und
- dass hierfür reale technologische und sozialkulturelle Tendenzen der nunmehr „post-fordistischen“ Produktivkraftentwicklung in Anspruch genommen werden können.
Die Neuformierung des Sozialstaates im Sinne der „biographischen Selbstbestimmung“ (hierfür ist u.a. die „Arbeitsversicherung“zentral), der ökologische Umbau der Energiewirtschaft im Sinne der vorliegenden solarwirtschaftlichen Konzeptionen und der systematische Ausbau einer neuen Gemeinwirtschaft in den Regionen – um nur drei Beispiele zu nennen – sind in diesem Sinne zeitgemäßer Ausdruck einer alternativen Vergesellschaftungslogik.
Strukturreformen in sozialistischer Perspektive
Zwischen „kommunal verwalteten Schwimmbädern“ und „besetzten Häusern mit Volksküche“ (These 9) und dem Sozialismus „jenseits des Zaunes“ gibt es die Möglichkeit und die Notwendigkeit, grundlegende Strukturreformen in Angriff zu nehmen, in denen der moderne Sozialismus sichtbar wird. Obwohl bzw. gerade weil die Thesen teilweise sehr fundamental daherkommen, fallen sie aber in diesem Zwischenraum sehr zaghaft und defensiv aus. Deutlich wird dies insbesondere an der These 28: Sie steht immerhin unter dem Titel „Sozialistische Wirtschaftspolitik“, ist aber im Kern auf keynesianische Instrumente der Fiskal- und Geldpolitik reduziert, und die sind ja nun wirklich nicht genuin sozialistisch. Aber das macht nichts, denn sie sind zweifellos sehr kompatibel mit einer alternativen Vergesellschaftungslogik!
Ansonsten werden dort viele Elemente stichwortartig und eher beiläufig erwähnt, die Arbeitsversicherung ebenso wie der öffentliche Beschäftigungssektor, aber ihr „sozialistisches Potenzial“ wird nicht ausgespielt. Die „Demokratisierung der Wirtschaft“ erschöpft sich in einem Halbsatz zum „Ausbau öffentlicher Beschäftigung und alternativer Wirtschaftsformen“, über welche man dann aber gar nichts mehr erfährt.
Zu Beginn (in der These 2) heißt es: „Den demokratischen Sozialismus zu erreichen, ist eine dauern de Aufgabe. Ihn exakt zu definieren, ist unmöglich.“ Man lehnt es ab, „eine Vision bis ins kleinste Detail aus den heutigen Verhältnissen heraus zu beschreiben“. Dies ist alles richtig. Aber es geht auch nicht um das Detail, sondern um die Grundzüge und die Richtung eines modernen Sozialismusverständnisses und über die erfährt man in den Thesen noch zu wenig. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es nach den Erfahrungen mit den Sozialismen des 20. Jahrhunderts, also insbesondere mit dem sozialdemokratischen Sozialstaatsmodell (in Verbindung mit einer dominierenden kapitalistischen Produktionsweise) und natürlich mit dem Sozialismus sowjetischen Typs unumgänglich ist, sich mit alternativen Mechanismen des sozialen Zusammenlebens und insbesondere mit alternativen ökonomischen Mechanismen zu beschäftigen und dies auf dem Niveau der Chancen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu tun.
Dies kann aber in der Tat nicht alleine am Reißbrett passieren, obwohl das Denken in Modellen meines Erachtens dazugehört.
Entscheidend ist die Verbindung mit allen realen Punkten, an denen die Vergesellschaftungslogiken aufeinander prallen, etwa in der Auseinandersetzung um den kom munalen Wirtschaftssektor, in der gesellschaftlichen Regulierung von Stoff- und Energieströmen oder dem Umbau des Gesundheitswesens.
An diesen und anderen Punkten lässt sich wieder die programmatische Phantasie entwickeln, die meines Erachtens das aktuelle SPD Programm – im Unterschied zu ihrer Vorgängerin – vermissen lässt. In diesem Sinne unterstütze ich die Aussage: „Die Diskussion darüber, wie eine Gesellschaft anders aussehen kann, sehen wir als Teil unseres Kampfes.“ (These 2) Die Juso-Thesen sind ein gelungener Aufschlag, mit dem diese Diskussion wieder eröffnet worden ist.
Dr. Uwe Kremer, spw-Mitherausgeber, ist Geschäftsführer des Life Technologies Ruhr e.V. und lebt in Bochum.
Nachdruck aus: spw –Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft