von Alban Werner, Politikwissenschaftler, SoFoR-Mitglied aus Aachen
Vor der diesjährigen Europawahl schlugen die Parteigänger des politischen Mainstreams laut Alarm. Sie wollten die Europawahl 2019 zur „Schicksalswahl“ machen – wie bereits 2016 die Brexit-Abstimmung, die US-amerikanische Präsidentschaftswahl oder die österreichische Präsidentenwahl und 2017 die Wahl der niederländischen Zweiten Kammer, die französische Präsidentschaftswahl oder die deutsche Bundestagswahl. Die europäischen unter den genannten Wahlgängen wurden wiederholt zu Volksabstimmungen zwischen „Pro-“ und „Anti-EuropäerInnen“ hochstilisiert.
Mit ihrer Hoffnung, durch dieses reichlich vereinfachte und politisch genehme Deutungsangebot das Ergebnis der Europawahl maßgeblich zu beeinflussen, sind die bislang dominierenden politischen Kräfte in Europa krachend gescheitert: In mehreren Mitgliedsländern gingen radikale rechtspopulistische Parteien wieder als erste durch die Zielgerade – doch selbst dort, wo sie dies nicht taten, haben sie den politischen Wettbewerb deutlich beeinflusst. Mit ausschlaggebend waren dabei die europäische ebenso wie die jeweilige nationale Ebene.
Gerade in Deutschland beherrschten inhaltsleere Gute-Laune-Kampagnen den Wahlkampf, die die WählerInnen unterforderten. So konnte die SPD-Kampagne unter dem „Europa ist die Antwort“-Slogan nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erwartungen der BürgerInnen an eine problemlösungsfähige Europapolitik verfehlt wurden. DIE LINKE präsentierte eine zwar solide, aber unoriginelle Kampagne mit vielen ihrer bekannten Forderungen, die alle nicht falsch waren, aber keinen originären Europa-Bezug aufwiesen.
Doch nicht nur die Parteien des fortschrittlichen Spektrums bekleckerten sich nicht mit Ruhm. Während der keinesfalls für revolutionäre Umtriebe bekannte Europäische Gewerkschaftsbund vor der Wahl zurecht inhaltliche Forderungen mit Gestaltungsauftrag verbreitete wie „Vorrang für soziale Rechte gegenüber wirtschaftlichen Freiheiten!“, stimmten seine deutschen Mitgliedsverbände in weitgehend unpolitische Loblieder auf die EU ein. Mit Verweis auf Errungenschaften der EU ohne Bezug zur Lohnarbeit wie den Wegfall von Roaminggebühren riefen sie hierzulande zur Teilnahme auf.
Es reüssierten hingegen die Bündnisgrünen, die zwar deutlicher als alle anderen Parteien eine EU-Wohlfühl-Botschaft verbreiteten, aber auch auf der gestiegenen Prominenz des Themas Klimawandel, auf ihrem Image als stärkste AfD-GegenspielerInnen sowie auf der aufgestauten Unzufriedenheit über die Netzpolitik der etablierten Parteien erfolgreich in Richtung Wahlsieg surfen konnten.
Horst Kahrs bescheinigte in seiner Wahlanalyse für die Rosa Luxemburg-Stiftung treffend, dass die etablierten Parteien kaum die politischen Streit- und Gestaltungsfragen abbilden konnten und wollten, die in der Gegenwart aufgeworfen werden und den BürgerInnen auf den Nägeln brennen. Unmittelbar nach der Wahl wurde deutlich, wie berechtigt die eher zweifelnde Grundhaltung der Leute gegenüber der Politik- und Steuerungsfähigkeit der EU angesichts politischer Großbaustellen wie Klimawandel, Digitalisierung, innereuropäischer Konfliktherde oder weltpolitischer Umbrüche eigentlich ist.
Während dieser Artikel geschrieben wird, konnte noch immer keine Nachfolge für Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident und keine vorwärtsweisende gemeinsame Linie in der Klimapolitik gefunden werden, geschweige denn eine Roadmap zur Besteuerung der weitgehend monopolistischen Internetkonzerne.
Bei Wahlen ist alles immer auch relativ
Neben programmatischen und machtpolitischen Schwächen des politischen Mainstreams auf der europäischen Ebene erwies sich die nationale Ebene als entscheidend. Auch hier gilt, dass Erfolge von RechtspopulistInnen oft eher durch Schwäche ihrer parteipolitischen Konkurrenz fremdgestiftet als durch eigene Stärke selbst „verdient“ sind.
In Frankreich gelang es der zwischenzeitlich in Rassemblement National umbenannten Partei von Marine Le Pen nach 2014 zum zweiten Mal in Folge, wenn auch knapp vor der Regierungspartei und der oppositionellen Konkurrenz zur Wahlsiegerin zu werden. Von der Fragmentierung des französischen Parteiensystems hat die dortige antineoliberale Linke offenbar nur begrenzt profitieren können, ebensowenig von der Bewegung der sog. Gelbwesten.
In Großbritannien wurde die neue Brexit-Party des früheren UKIP-Chefs Nigel Farage nicht nur erste, sondern überflügelte den Wahlsieg von UKIP bei der letzten Europawahl mit über 30% sogar deutlich, während alle anderen Parteien unter 20% blieben. Es zeigte sich, dass das Vorgehen des Labour-Chefs Jeremy Corbyn nicht mehr aufgeht, eine eindeutige Positionierung pro oder contra Brexit zu vermeiden und sich darauf zu verlassen, sich im Vergleich zu Theresa Mays unglücklichem Schicksal als kleineres Übel darzustellen.
In Deutschland gewann die AfD zwar bundesweit fast 4 Prozentpunkte auf 11% hinzu, aber gegenüber den von ihr selbst erhofften, von anderen befürchten Durchmärschen vor allem in Ostdeutschland war ihr Ergebnis für sie enttäuschend. Selbst in ihrer Hochburg Sachsen wurde ihr Wahlgewinn nur mit 25,3% und 520.668 Stimmen erreicht – gegenüber noch 27% und 669.940 Zweitstimmen bei der jüngsten Bundestagswahl. Der Sieg der AfD in Sachsen ist dennoch insofern wenigstens relativ, als es ihr gelungen ist, zwischen der Bundestagswahl und der Europawahl weniger als die anderen Parteien zu verlieren – mit Ausnahme jedoch der Bündnisgrünen, die ihre Stimmen im selben Zeitraum fast verdoppelten.
Kein eindeutiges Bild, keine einfachen Antworten
Die parteipolitische Umbruchphase zeigt sich aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Nach Deutschland mit der AfD verfügt nun auch Spanien mit Vox über eine erfolgreiche radikal rechte Partei, nachdem das Land jahrzehntelang davon verschont geblieben war. In den Niederlanden konkurrieren auf diesem Gebiet sogar zwei Parteien mit Geert Wilders Partei für die Freiheit (PVV) und dem zuletzt erfolgreicheren Forum voor Democratie (FVD) von Thierry Baudet.
Ein für Linke besonders kniffliger Fall ist Dänemark. Die Dänische Volkspartei (DF) tolerierte nicht nur mehrfach rechtsbürgerliche Regierungen, sondern wurde mit ihrer Mischung aus nationalistischer Innen- und Migrationspolitik und Wohlfahrtschauvinismus zum Vorbild für die programmatische Neuorientierung radikaler RechtspopulistInnen in vielen europäischen Ländern. Auch der radikale neurechte AfD-Vordenker Björn Höcke orientiert sich mit seine Forderung nach (Wieder-)Ausbau sozialstaatlicher Sicherungen nur für „echte“ Deutsche (ob bewusst oder unbewusst) an diesem rechtspopulistischen Erfolgsrezept.
Indes verlor die DF nicht nur ihre bei der Europawahl 2014 erlangte Pole Position, sondern erlebte auch kurz darauf einen Verlust von 12 Prozentpunkten bei der Folketingswahl. Ihren Absturz und den relativen Wahlsieg der dänischen SozialdemokratInnen führen viele BeobachterInnen darauf zurück, dass Letztere durch Übernahme restriktiver Zuwanderungspolitik bei Propagierung fortschrittlicher Sozialpolitik die wichtigsten Gewinnerthemen der DF neutralisiert hätten. Unter Linken vermischt sich der Streit darüber, ob diese Konstellation tatsächlich ausschlaggebend oder vermeidbar war, mit der Frage, ob eine linke Mehrheit den in Dänemark gezahlten Preis tatsächlich wert ist.
Herausforderung und Auftrag für die Linke
Die Europawahl und ihr Nachgang unterstreichen insofern, dass die aktuellen Umbrüche nicht nur die politischen Spieler bei Wahlen, sondern die Spielregeln selbst verändern. Die antineoliberale Linke braucht deswegen nicht nur ein Programm, sondern auch eine eigentliche Politik auf der Höhe der Zeit.
Insbesondere an die antineoliberale Linke in allen fortschrittlichen Parteien in Deutschland ist damit ein wichtiger Auftrag für die nationale wie die europäische Ebene formuliert. Um etwa die fortschrittlichen Regierungsbündnisse in Spanien und Portugal, aber auch aktuell und perspektivisch in der Opposition befindliche linke Kräfte in Italien, Griechenland oder Frankreich zu unterstützen, muss das Korsett der europäischen Sparpolitik möglichst gelockert und perspektivisch überwunden werden. Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit sollten Linke argumentieren, dass erst die Kombination aus Spardiktaten einerseits und inneren Problemen andererseits den Erfolg von Demagogen wie Matteo Salvini oder Marine Le Pen möglich gemacht hat.
Linke sollten weiterhin Abstand nehmen von der platten und oft auch sachlich falschen Entgegensetzung von „mehr oder weniger Europa“. Nicht nur der Umfang, sondern auch die genaue Richtung der EU-Integration ist fast immer umstritten – „mehr“ kann mehr Konkurrenzdruck durch Verschärfung der neoliberalen Economic Governance, europaweite Ausschreibungen oder Niedriglohnkonkurrenz, aber auch mehr Wohlfahrt durch EU-weite Investitionsprogramme oder europäische Umweltschutzauflagen bedeuten.
Wer die BürgerInnen wirklich an einer demokratischen europäischen Politik beteiligen will, muss ihnen mehr Differenzierung zumuten, als es die Debatten vor allem in Deutschland bislang getan haben. In diesem Zusammenhang muss die Linke vor allem den unzutreffenden Eindruck ausräumen, dass Politik auf nationaler und europäischer Ebene immer ein Nullsummenspiel („eine stärkere EU geht nur durch weniger Demokratie und Wohlstand auf nationalstaatlicher Ebene“) sein müsse.
Auch diesem falschen Eindruck verdankte sich im Vereinigten Königreich die Popularität der Formel „Take back control“ im Rahmen der Brexit-Kampagne. Jenseits der falschen Versprechungen von Europa als Allheilmittel oder Bedrohung sind viele BürgerInnen ansprechbar, wenn man ihnen einleuchtende Vorschläge europäischer Politik als Teil einer Problemlösung nahebringt: Es haben fast alle mehr davon, wenn es europäische Regelungen und Institutionen für Mindestbesteuerung, Schutz der Rechtsstaatlichkeit oder eine humane Migrationspolitik gibt. Dass eine solche Politik sogar vor allem denjenigen mehr soziale Sicherheit, demokratische Mitsprache und Freiheit bringen kann, die bislang zu den Unterprivilegierten zählen, dafür ist die Linke den erforderlichen Nachweis leider noch schuldig.
Hier befindet sich die pdf-Datei des SoFoR-Infos 65 / 2019.