SoFoR-Info 63: Frieden in Syrien – aber wie?

Das Foto zeigt die durch den Bürgerkrieg zerstörte syrische Stadt Azaz. Quelle: Voice of America, Report von Scott Bob aus Azaz, Syrien, Wikimedia, public domain.

von Paul Schäfer, SoFoR-Vorstand, Soziologe

Sie sind schon fast wieder aus unserem Horizont verschwunden, die erschütternden Berichte aus der Krisenregion Nahost. Aber die Bilder und Nachrichten über die unverhältnismäßige Gewalt in Gaza, die humanitäre Katastrophe im Jemen und last not least über die Spur der Verwüstung in Syrien bleiben doch haften. Das Schlimme zudem: Ein Ausweg aus der Spirale der Gewalt scheint nicht in Sicht.

Status quo in Syrien

Aber ist nicht zumindest der syrische „Bürgerkrieg“ weitgehend zum Stillstand gekommen? Ein Zustand des Nicht-Krieges quasi? Richtig ist: Der Islamische Staat, der in Syrien und im Irak sein Kalifat errichten wollte, konnte durch eine breite „Anti-Terror-Allianz“ weitgehend zurückgedrängt werden. Das ist keine schlechte Nachricht. Wie lange Nachhutgefechte andauern werden, weiß niemand. Ansonsten?
Der Sieger des Krieges scheint festzustehen: Es ist der syrische Machthaber Assad, der im Bunde mit russischer Luftwaffe, alQuds-Brigaden aus dem Iran und der Hisbollah-Miliz aus dem Libanon die verschiedenen „Aufstandsbewegungen“ weitgehend niedergerungen hat.

Die von den Golfstaaten unterstützten islamistischen Milizen und die schon seit geraumer Zeit dezimierte „Freie Syrische Armee“, die v. a. von der Türkei und den USA gefördert wurde, haben ihre wichtigen Einflusszonen verloren und scheinen zu Gegenangriffen nicht mehr fähig. Gut möglich also, dass damit das Ende des bewaffneten Konflikts in greifbare Nähe gerückt ist.

Ob das schon eine gute Nachricht ist, darf gefragt werden. Ein wirklicher Friedensprozess, der zumindest mittelfristig zu demokratischeren Verhältnissen führen müsste, ist mit Baschir Assad an der Spitze schwer vorstellbar. Präsident Assad hat kürzlich nicht nur unverblümt erklärt, dass außer Landes Geflohene nicht mehr willkommen seien, sondern auch ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Staat zur Konfiszierung des zurückgelassenen Eigentums ermächtigen soll.

Die moderateren Töne, die man inzwischen aus dem Ministerium für Aussöhnung (das gibt es wirklich) vernimmt, werden daher mit großer Reserviertheit zu betrachten sein. Das Problem liegt inzwischen tiefer. Über 350.000 Menschen sind nach UN-Angaben getötet wurden, 1,5 Mio. haben dauerhafte körperliche oder seelische Schäden erlitten, über die Hälfte der Bevölkerung, nahezu 12 Mio. Menschen, musste ihre angestammte Heimat verlassen, nahezu die Hälfte davon floh ins Ausland. Die Bilder der Zerstörung aus Aleppo, Homs, den anderen Städten zeigen unmissverständlich: Hier hat kein Scharfschützenkrieg stattgefunden, sondern Häuserkampf mit moderner Artillerie und umfangreichen Luftbombardements. Man kann sich vorstellen, wie tief Hass, Verbitterung, Verzweiflung sitzen, wie tief der Graben zwischen den Beteiligten, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Glaubensgemeinschaften, Familien durch diese Dimension des Krieges ist. Und jetzt droht, solange das Assad-Regime im Sattel sitzt, allen Oppositionellen „die Rache der Sieger“.

Zur Rolle Assads

In den Augen mancher Linker erscheint Assad in milderem Licht, weil er doch existenzieller Not gehorchend und als Reaktion auf die ihn bedrängende Allianz der ausländischen (westlichen/saudischen/türkischen) Interventen zu den Mittel harter Repression und brutaler Kriegsführung gegriffen habe. Daran knüpft sich auch die Hoffnung, dass nach der Wiederherstellung syrischer Souveränität ein Reform- und Aussöhnungsprozess ermöglicht würde.

Auch hier hilft es, sich noch einmal die tatsächlichen Ereignisse zu vergegenwärtigen: Als die arabische Revolte 2011 auch auf Syrien übergriff und Zehntausende in Daraa, Homs und anderen Städten ganz überwiegend friedlich für mehr Freiheit und gegen den seit langem geltenden Ausnahmezustand auf die Straße gingen, sprach Präsident Assad in drei Fernsehreden (März bis Juni 2011) zwar davon, dass die Notstandsgesetze aufgehoben und demokratische Reformen eingeleitet würden, kündigte aber an, dass zunächst die „Saboteure aus dem Ausland“, die „Terroristen“, besiegt und bestraft werden müssten.

Damit war die Grundsatzentscheidung getroffen, dem Aufruhr mit harter Faust zu begegnen. Die folgende Eskalation der Gewalt hat er daher maßgeblich, wenn auch nicht ausschließlich, zu verantworten. Die Wende vom zivilgesellschaftlichen Protest zum bewaffneten Kampf auf der Gegenseite wurde danach erheblich von externen Akteuren befördert (Türkei, Saudi-Arabien, Katar). Im folgenden gnadenlosen Krieg wurden auf beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen: Einsatz chemischer Waffen, unterschiedslose Kriegsführung durch Fassbomben, Zivilisten als Schutzschilde usw.

Der syrische Machthaber hat im Übrigen auch seinen Anteil am Aufstieg des IS-Terrorismus: Am Beginn des Krieges ließ er fundamental-islamistische Anführer aus der Haft entlassen, mit dem Kalkül, den IS gegen die nach Selbständigkeit strebenden Kurd*innen im Norden des Landes zu stärken. Ironie des Schicksals: Daraus wurde mit der Ausrufung des Kalifats eine existentielle Bedrohung für ihn selbst.

Heute wissen wir, dass der hemmungslose Einsatz militärischer Gewalt Assad nicht gerettet hätte, wären ihm nicht in höchster Bedrängnis Verbündete zu Hilfe gekommen. Das bezieht sich auf die Unterstützung durch den Iran und die Hizbollah. Aber erst die massive Militärhilfe Moskaus ab Herbst 2015 brachte die Wende. Aber wie kann und sollte „die internationale Gemeinschaft“ jetzt mit diesem „Sieg“ umgehen?

Zwei Optionen

Grundsätzlich scheinen zwei Optionen möglich. Erstens: Man kann die Uhr zurück auf Anfang stellen und mit der Neuaufstellung und Aufrüstung einer aufständischen Armee beginnen, die, gestützt auf intensiveres US-amerikanisches und saudi-arabisches Engagement, einen neuen Anlauf für das Projekt Regime-change“ in Syrien nimmt.

Zweitens: Man kann der Tatsache Rechnung tragen, dass man bei der Gestaltung der Zukunft des Landes an der Koalition der Sieger nicht vorbeikommt und man deren jeweilige Interessenlagen in Rechnung stellen muss.

Bei der ersten Option stellen sich unweigerlich solche Fragen: Wie viele Opfer soll der Krieg noch kosten? Wer soll danach das wohl vollends zerstörte Land aufbauen? Wie will man dieses Mal verhindern, dass sich fundamental-islamistische Gruppen an die Spitze der Oppositionsbewegungen stellen? Dabei schält sich rasch die Antwort heraus, dass ein neuerlicher Versuch eines gewaltsamen, von auswärtigen Akteuren exekutierten Umsturzes schlicht aberwitzig wäre. Niemand kann einen solchen Preis bezahlen wollen.

Bei der zweiten Option wird man sich mit der Frage konfrontiert sehen: Akzeptiert man, dass die Mehrzahl der Bewohner Syriens sich nach einer neuen Heimstatt umsehen müssen, nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren möchten und dass alle, die nicht aktiv für das Regime waren, willkürlicher und harter Bestrafung und Diskriminierung ausgesetzt sein werden? Muss man sich auf Dauer mit dem alten und neuen Machthaber arrangieren?

Die Antwort lautet aus meiner Sicht: Man muss. Da das Hauptproblem darin bestehen wird, dass die Bereitschaft Assads nach dem Sieg zu internationalen Verhandlungen gegen Null gehen wird, wird man zugleich internationalen Druck für eine Verhandlungslösung aufbauen müssen. Assad ist essentiell auf seine Bündnispartner Russland und Iran angewiesen.

Daraus ergibt sich die erste Schlussfolgerung: Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die Europäische Union und alle an einem Friedensprozess einzubeziehenden Staaten kommen an einem Dialog mit der Russischen Föderation, dem Iran und einem Zusammenwirken nicht herum. Nur mit ihnen kann ein Weg zu einem dauerhaften und für alle zuträglichen Frieden gefunden werden! Dass vor diesem Hintergrund die Eskalationsstrategie des US-Präsidenten Trump gegenüber dem Iran und Russland kontraproduktiv, ja extrem gefährlich ist, liegt auf der Hand.

Skizze eines Friedensprozesses

Worum soll es bei einem solchen „Friedensprozess“ gehen? An oberster Stelle steht der Schutz der Zivilbevölkerung. Es sollte um Regeln und Garantien gehen, um sicherzustellen, dass die Fortsetzung des Krieges mittels staatlicher Repression gegen die „Besiegten“ unterbleibt.

Wie man hört, haben Bewohner in einigen von den Assad-Truppen zurückeroberten Regionen darauf gedrängt, dass die öffentliche Ordnung durch russische Militärpolizei und nicht durch Assad-Soldaten gewährleistet werden sollte. Das ist mehr als verständlich. Noch viel besser wäre es, wenn dieser absolut nötige Schutz der Zivilbevölkerung durch „neutrale“ UN-Blauhelmsoldaten und/oder UN-mandatierte Polizeikräfte abgesichert würde.

Die russische Regierung hat bisweilen angedeutet, dass sie zur Einleitung eines Verfassungsprozesses in Syrien bereit sein könnte. Und das wäre das Maximum dessen, was absehbar erreichbar ist: ein Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf, an dessen Zustandekommen auch Kräfte der zivilgesellschaftlichen Opposition beteiligt würden und der den Weg zu Neuwahlen und ersten Demokratisierungsschritten öffnen könnte (ggf. einer Machtteilung zwischen Assad-Regierung und Parteien des demokratischen Spektrums).

Alle Bemühungen um eine nachdrückliche Pazifizierung des Gewaltkonflikts und seine Überführung in einen wirklichen Reformprozess werden nicht zu erreichen sein, wenn nicht unverzüglich mit dem großflächigen Wiederaufbau des Landes begonnen wird. Nur so wird es gelingen, die außer Landes Getriebenen wieder ins Land zurückzuholen (dies dürfte wiederum eine Voraussetzung sein, damit sich im Land genug Menschen zusammenfinden, um schließlich ein demokratisches, rechtstaatliches und soziales Gemeinwesen aufbauen zu können).

Die Vereinten Nationen haben in dieser Hinsicht nur wenig Möglichkeiten und sind auf sog. „Geberkonferenzen“ angewiesen, auf denen Staaten oder private Akteure sich zu Hilfsmaßnahmen bereitfinden. Die im April 2018 auf einer solchen Konferenz zugesagten Finanzmittel von 3,6 Milliarden Euro sind weit unterhalb dessen, was nötig wäre.

Die verschiedenen, sich hauptsächlich auf Militär stützenden Interventionen von außen waren maßgeblich am Zustandekommen des unbeschreiblichen Elends und Desasters in Syrien beteiligt. Daher muss diese Form der äußeren Einmischung ganz entschieden zurückgefahren werden. Das gilt für die US-amerikanischen Militärberater, Spezialtruppen, Militärstützpunkte ebenso wie für die Soldaten Russlands, der Türkei, Frankreichs oder die iranischen Milizen und die Hizbollah. Kein Friede ohne die Beendigung der ausländischen Militärinterventionen.

Gleichzeitig gilt jedoch auch, dass ohne internationale Vermittlung, Einflussnahme und materielle Unterstützung ein Frieden in Syrien nicht erreicht werden kann. Diese „Intervention“ sollte im Rahmen des Völkerrechts zivil ausgerichtet und auf die Stärkung (empowerment) der syrischen Zivilgesellschaft fokussiert sein.

Dass dies so geschieht und die geopolitischen und geowirtschaftlichen Machtinteressen der bisherigen Interventen zumindest zurückgedrängt werden, würde verlangen, die UNO an die erste Stelle zu setzen, wenn es um Frieden geht. Den Gesamtprozess zu Frieden und Versöhnung und zur wirtschaftlichen Gesundung unter der Schirmherrschaft der UNO voranzubringen, das wäre notwendig. Leider scheint es eher auf das übliche konfliktträchtige und eigensüchtige Mächtegerangel hinauszulaufen. Frieden in Syrien? Noch lange nicht.

Paul Schäfer ist Redakteur der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden und war von 2005-2013 MdB als verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.


Das Titelbild zeigt die durch den Bürgerkrieg zerstörte syrische Stadt Azaz. Quelle: Voice of America,
Report von Scott Bob aus Azaz, Syrien, Wikimedia, public domain.

Hier befindet sich die pdf-Datei des SoFoR-Infos 63 / 2018.