SoFoR-Info Nr. 49: Aufbruch zu neuen Ufern möglich

von Matthias W. Birkwald, Bundesparteitagsdelegierter der Kölner LINKEN und Mitglied des Deutschen Bundestages.

Dunkel war es, im Gang zum Sitzungssaal in Göttingen. Unter dem Motto „Solidarisch, gerecht, demokratisch, friedlich“ galt es für DIE LINKE am 2./3. Juni ihre Parteivorsitzenden und den Vorstand neu zu wählen.

Im November hatte der langjährige ehemalige Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch seine Kandidatur als Vorsitzender bekannt gegeben. Oskar Lafontaine war von verschiedenen Seiten gebeten worden, zu kandidieren. Er erklärte nach der Landtagswahl in NRW seine Bereitschaft, noch einmal anzutreten, allerdings nur ohne einen Gegenkandidaten. Dietmar Bartsch erhielt seine Kandidatur aufrecht und so gab es im Vorfeld des Parteitages reichlich Spannungen, Bewegung und innerparteiliche Auseinandersetzungen. Ein Sechser-Team namens „Dritter Weg“ machte das Angebot einer weiblichen Doppelspitze mit der sächsischen Sozialpolitikerin Katja Kipping und der nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden Katharina Schwabedissen: Genug Stoff für die zahlreichen Vorbesprechungen der Delegierten und ihrer stark rivalisierenden innerparteilichen Strömungen am Vorabend des Parteitages. Neben einigen Strömungstreffen folgten am Freitag Abend weit über 100 interessierte Parteimitglieder mit und ohne Mitgliedschaft in einer Strömung einer Einladung der Initiator_innen des Aufrufes „Wir sind DIE LINKE“. Ihr Ziel war, dass vom Göttinger Parteitag ein Signal der Gemeinsamkeit ausgeht, ein praktisches Verständnis von Pluralität als Stärke der LINKEN. Auf diesem Treffen wurde in einer solidarischen Atmosphäre geworben für „eine selbstkritische Bilanzierung der fünfjährigen Entwicklung der LINKEN, bei der nicht mit dem Finger auf Einzelne gezeigt, sondern gemeinsame Lernaufgaben formuliert werden, an denen wir künftig arbeiten und wachsen können“. An alle Kandidatinnen und Kandidaten für den Parteivorsitz und den Parteivorstand, wurde die Erwartung gerichtet, „dass sie willens sind, in ihrer Vorstandstätigkeit Solidarität und Toleranz im Umgang mit unterschiedlichen Positionen zur Grundlage ihres Handelns zu machen“ und von den Delegierten des Parteitages wurde die Fähigkeit eingefordert, „in ihrem Wahlverhalten die Vielfältigkeit unserer LINKEN abzubilden, nicht auszugrenzen und sich von der Maxime leiten zu lassen, dass in einem Parteivorstand vor allem Menschen tätig sein sollen, die im Austausch miteinander Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und auf diesem Wege DIE LINKE nach vorn bringen.“ Kurz: „Die Partei DIE LINKE. sind wir alle“, war der Gestus des von 1100 Mitgliedern unterzeichneten Aufrufes und des Treffens, auf dem solidarisch und kulturvoll gestritten wurde.

Anschließend dachte ich: „Wir haben eine Chance.“ Nach den Reden von Klaus Ernst, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, die die Probleme in Partei und Bundestagsfraktion in unterschiedlicher Weise sehr deutlich und über die Maßen offen zeigten, war ich mir nicht mehr sicher. Von Hass und Spaltung war die Rede. Und als im insgesamt erfreulich konkreten Leitantrag eine von mir aus guten fachlichen und politischen Gründen abgelehnte rentenpolitische Forderung angenommen wurde, wuchsen meine Bedenken.

Letztlich setzte sich Katja Kipping gegen Dora Heyenn, der linken Fraktionsvorsitzenden in der Hamburger Bürgerschaft, klar durch und der Verdi-Gewerkschafter Bernd Riexinger aus Stuttgart errang gegen Dietmar Bartsch trotz dessen selbstbewusster und sehr starken Bewerbungsrede 54 % der Stimmen. Den beiden neuen Vorsitzenden wurden sowohl in der engeren Parteiführung wie im Gesamtvorstand viele kompromissorientierte, eher moderate und umgängliche Genoss_innen zur Seite gestellt. Das ist wichtig, denn zu einer sich als plural, solidarisch und offen verstehenden Partei, die von Beschäftigten, Erwerbslosen und Rentner_innen gewählt werden möchte, gehören Politiker_innen, die dies auch persönlich leben und ausstrahlen. Mit den stellvertretenden Vorsitzenden Sahra Wagenknecht, Caren Lay, Axel Troost, Jan van Aken, dem Schatzmeister Raju Sharma und dem Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn ist eine politisch sehr ausgewogene engere Parteiführung gewählt worden. Für die Wahl des Landesvorsitzenden aus Sachsen-Anhalt warben Kipping und Riexinger. So bekam er auch 81 %. Ein deutliches Signal in Richtung der Bartsch-Anhänger_innen. Danach konnte von einer bevorstehenden Spaltung keine Rede mehr sein. Die Medien ließen sich davon nicht beirren und orakeln immer weiter in diese Richtung.

Ein weiteres Ergebnis: Bis auf Katharina Schwabedissen, die ihre Kandidatur zur Vorsitzenden am Samstag Abend zurückgezogen hatte und später nicht als Stellvertreterin gewählt wurde, sind alle vom Team „Dritter Weg“ angetretenen Kandidat_innen gewählt worden. Da auch die Landesschatzmeisterin der NRW-LINKEN knapp den Einzug in den Vorstand verpasste, ist der in Abwesenheit gewählte ehemalige Vorsitzende der Landtagsfraktion nun der einzige originäre Nordrhein-Westfale im Parteivorstand. Der erkrankte Wolfgang Zimmermann wurde von Sahra Wagenknecht vorgestellt, erhielt ein gutes Wahlergebnis und kommt aus Düsseldorf. Eine Kölnerin oder einen Kölner gibt es nicht im Vorstand der LINKEN. Dafür gab es aber am Sonntag im Gang zum Sitzungssaal der Lokhalle endlich Licht. Passend zum durchaus möglichen Aufbruch der LINKEN zu neuen Ufern.

Alle Reden und Wahlergebnisse und Beschlüsse finden sich unter www.die-linke.de.


Hier befindet sich die pdf-Datei des SoFoR-Infos 49 / 2022.