von RICHARD DETJE.
„Wachsende Systemkritik“ ist ein mittlerweile gesicherter Befund der Meinungsforschung. So ist mittlerweile die Hälfte der Bundesbürger der Auffassung, dass der Kapitalismus nicht mehr in die heutige Welt passe. „1992, als die Erinnerung an die Rivalität von Kapitalismus und Sozialismus noch lebendig war, assoziierten 48% der Bürger Kapitalismus mit Freiheit, heute nur noch 27%. Assoziationen mit Fortschritt sind im selben Zeitraum sogar von 69 auf 38% zurückgegangen, die Verbindungen mit Ausbeutung dagegen von 66 auf 77% gestiegen.“ (Renate Köcher) Doch diese Kritik scheint nahezu ohne Konsequenzen zu sein, artikuliert sich nicht in breiten, gar militanten politischen Protesten wie in mediterranen Krisenstaaten, oder Großbritannien und Belgien.
Wie ist das zu verstehen? Folgt man der Jenaer Forschungsgruppe um Klaus Dörre, liegt der Schlüssel für dieses Rätsel in einer eigentümlichen Spaltung des Alltagsbewusstseins, die sich auf die Formel bringen lässt: „guter Betrieb – schlechte Gesellschaft“. Systemkritik bündelt sich demnach in der Zivilgesellschaft, ist aber nicht arbeitsgesellschaftlich geerdet. Eine andere Interpretation kommt aus der Bielefelder Rechtsextremismus-Forschung, die von wachsendem Fatalismus im gesellschaftlichen Unten und mentaler, politischer Verrohung der ökonomischen Eliten und ihrer kulturellen Sprachrohre ausgeht.
Unsere Befunde
Obgleich beide Ansätze wichtige Erklärungsfaktoren benennen, kommt unsere eigene Untersuchung zu anderen Befunden. Um drei zu benennen:
1. Die systemische Verdichtung von Kritik ist nur zum Teil ein Ergebnis der aktuellen Krise. Die soziale und ökonomische Entwicklung wird vielmehr als ein permanenter Krisenprozess wahrgenommen. Nicht zuletzt die längerwährenden Erfahrungen sind dafür verantwortlich, dass ein direkter Rückschluss von
„objektiver“ Krisenbetroffenheit auf die subjektive Krisenwahrnehmung kaum möglich ist. So wird eine individuelle Krisenbetroffenheit, ein besonderes Leiden unter der Krise, nicht durchgängig von denjenigen am stärksten artikuliert, die hinsichtlich Arbeitsplatzsicherheit sowie in Hinblick auf die finanziellen Folgen eigentlich am ehesten zu den „Krisenopfern“ zu zählen wären. Denn gerade unter ihnen finden sich viele, die aufgrund vergangener betrieblicher Erfahrungen oder vor dem Hintergrund einer durch Unsicherheit und Brüche geprägten Erwerbsbiografie eine generalisierte Kompetenz zum Umgang mit prekären Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen entwickelt haben.
2. Die Krise finanzmarktgetriebener Akkumulation unterscheidet sich von Krisenprozessen am Ende der fordistischen Prosperitätsphase Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Auch in ihren augenscheinlichen Formen: Nicht mehr unverkäufliche Waren und überquellende Lager sondern Fehlspekulationen auf den Immobilien- und Finanzmärkten prägen die Krisenwahrnehmung. Die Krise erscheint damit in der fetischisierten Form des Geldkapitals, die mit dem sozialen Prozess der Reichtumsproduktion nur noch auf höchst komplexe Weise vermittelt ist. Umso mehr täte Aufklärung Not – die jedoch als organisierter Prozess in den letzten Jahren kaum stattgefunden hat. Zwischen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und arbeitsgesellschaftlichen Akteuren klafft weiterhin, teilweise mehr als zuvor eine tiefe Kluft, gewerkschaftliche Aufklärung auf verhaltenem Niveau hat kaum die eigenen Funktionäre erreicht und eine nahezu Allparteienkoalition im politische System erweist sich als unfähig, die Krise des Neoliberalismus zu bearbeiten. Lernprozesse sucht man so vergebens.
3. Zumindest Lernprozesse, die Ursachen ergründen und Alternativen aufscheinen lassen. Demgegenüber scheint das Kapital aus der Krise ganz immanent gelernt zu haben: wie die Arbeit weiter intensiviert und die Arbeitszeiten so flexibilisiert werden können, dass die Utopie der „atmenden Fabrik“ konkret geworden ist. Es ist diese „Ultraflexibilisierung“, die gegen die Formel vom „guten Betrieb“ spricht. Und die zugleich jede Menge Wut erzeugt, nicht in Fatalismus mündet. Aber nicht nur fehlende Lernprozesse verhängen den Blick auf Alternativen. Systemkritik nimmt unserer Untersuchung nach die Form „adressatenloser Wut“ an: nicht das eigene Unternehmen, nicht die eigene Hausbank sind als Krisenverantwortliche zu identifizieren – auch das Management „macht nur seinen Job“. Systemische Krisenprozesse können insofern demobilisierend sein und Ohnmachtserfahrungen verstärken.
Wie könnte das aufgebrochen werden?
Dazu müsste die Diskussion überhaupt erst beginnen. Wenige Stichworte:
1. Wenn Arbeit und Betrieb die zentralen Orte der Entstehung von Krisen- und Ohnmachtserfahrungen sind, dann ist es nur folgerichtig, inhaltliche und interessenpolitische Auseinandersetzungen wie auch möglichen Widerstand und Protest wieder stärker auf diesen Ort zu fokussieren. Die „Leerstelle Betrieb“ ist in der politischen Diskussion zu schließen.
2. Es muss darum gehen, an die neue Unmittelbarkeit der
„Systemerfahrung“ anzuknüpfen. Es gilt die Spielräume für Kritik, Protest und Widerstand realistisch auszuloten. Nur wenn die Einsicht darüber wächst, was tatsächlich veränderbar ist und was an die Grenzen des neoliberalen Kapitalismus und der nachfordistischen Produktionsweise stößt, können auch kritisch-realistische Handlungsstrategien entwickelt werden, die schließlich doch die Grenzen dessen sprengen, was als das Machbare erscheint.
3. Unsere Befragung hat einen erheblichen Bedarf an Diskussion und Reflexion über Krisenursachen, über grundsätzliche ökonomische Zusammenhänge, gezeigt. Die Delegitimierung politischer Akteure machen die individuelle wie kollektive Auseinandersetzung mit Systemzwängen unausweichlich. Dies ist die Basis für die Entwicklung einer eigenen Interessensperspektive, die notwendigen Widerstand aus den eigenen Arbeits- und Reproduktionsinteressen begründet. Dies ist eine zentrale Herausforderung für die Gewerkschaften: Die Unmittelbarkeit von Systemerfahrungen zu nutzen und mit der Aufklärung über Systemzusammenhänge zu verbinden.
4. So wichtig es ist, Arbeit und Betrieb als Ort für Reflexion und Veränderung wiederzuentdecken, so wichtig ist es auch, die Verbindungslinien zu weiteren gesellschaftlichen Konfliktfeldern und Auseinandersetzungen herzustellen. Die Forderungen nach einem stärkeren politischen Engagement der Gewerkschaften, die wir vorgefunden haben, beinhalten zugleich den Wunsch nach Beteiligung und die Hoffnung auf Mobilisierung. Die Reflexion der Ohnmachtserfahrungen war und ist der erste Schritt, sich mit ihren Ursachen auseinanderzusetzen und politisch handlungsfähig zu werden.
Hier befindet sich die pdf-Datei des SoFoR-Infos 48 / 2012.