Per Brief gefeuert

Die Auflösung des Kölner Juso-Vorstandes 1969 – ein Versuch, die Vorgeschichte zu rekonstruieren

Heiner Kockerbeck

„Per Brief gefeuert“ – dem Redakteur, der für den Lokalteil des Kölner Stadt-Anzeigers vom 12. Juli 1969 diese Schlagzeile wählte, wird es wohl selbst nicht ganz geheuer gewesen sein, was da passiert war. In einem nüchternen Brief hatte der Vorstand der Kölner SPD allen Jusos in Köln mitgeteilt, daß der von ihnen gewählte Juso-Vorstand ab sofort nicht mehr existierte. Der Kölner SPD-Vorsitzende John van Nes Ziegler begründete diesen Schritt gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger damit, daß für den SPD-Unterbezirksvorstand die nötige Vertrauensbasis zum Juso-Vorstand zerstört sei. Ein SPD-Vorstand und der gewählte Vorstand der SPD-Jugendorganisation: ein Verhältnis wie zwischen Chef und Angestelltem, der um seiner beruflichen Existenz willen um das Vertrauen des Vorgesetzten bangen muß?

Eine Organisation auflösen ist jedenfalls ein drastischer Vorgang. Aus der Geschichte der Kölner Jusos ist kein anderer Vorfall dieser Art bekannt und etwas erinnert solcher Sprachgebrauch doch an das obrigkeitsstaatliche Sozialistengesetz im Kaiserreich oder etwa an die frühen 30er Jahre, als die SPD in einer konfliktreichen innenpolitischen Situation die gesamte Juso-Organisation auflöste.

Wie kam es nun 1969 zu diesem Schritt? Stein des Anstoßes war jedenfalls die Weigerung des Juso-Vorstandes, für den SPD-Bundestagskandidaten Hans-Jürgen Wischnewski als bekanntem Befürworter der Notstandsgesetze Plakate zu kleben, während man aber – so der stellvertretende Vorsitzende Manfred Güllner – allgemein für die SPD Wahlkampf machen wollte. Der zweite Grund – so van Nes Ziegler – sei ein „hanebüchenes Infoblatt“ der Jusos (die Juso Informationen, im folgenden JI) gewesen, daß gegen die Politik der SPD gerichtet gewesen sei.

Ein paar mal zu wenig den Kleister angerührt und den Quast geschwungen, damit einem prominenten SPD-Mitglied allenfalls auf den kleinen Zeh getreten und dann noch SPD-Mitglieder (an diese wurden die JI verschickt) mit kritischen Anfragen an die aktuelle Parteivorstandspolitik belästigen – und schon ist man möglicherweise nicht mehr Mitglied der SPD? Denn alle elf Mitglieder des Juso-Vorstandes mußten sich anschließend noch einem Parteiausschlußverfahren unterziehen, bei dem aber nur diejenigen ausgeschlossen wurden, die sich nicht vom Wahlkampfbeschluß der Jusos distanzierten. Das Ganze wirft vom heutigen Standpunkt einige Fragen nach Ursprüngen und Hintergründen dieser gar nicht so gemütlich kölsch wirkenden Ereignisse auf.

1. Köln 1966: Jugenddemonstrationen gegen die KVB-Preiserhöhung

Die Dynamik des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ kam in den 60er Jahren zum Stillstand und leitete 1966/67 in die erste Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges über. Auch wenn bald wieder eine vorübergehende wirtschaftliche Erholung eintrat, erkannten schon damals hellsichtige ZeitgenossInnen, daß in der Bundesrepublik wie in anderen westlichen Industrieländern die Wiederaufbauphase nach 1945 zu Ende ging. Der „Traum immerwährender Prosperität“ (Burkhard Lutz) und eines krisenfreien Kapitalismus, durch die Erfahrungen seit Kriegsende scheinbar bestätigt, war ausgeträumt.

Als Folge des Rückgangs der Produktion und der wirtschaftlichen Rezession sanken rasch die Einnahmen der öffentlichen Haushalte. Schon Ende 1965 hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) den BürgerInnen nahegebracht, sie müßten den Gürtel enger schnallen und eine Stunde in der Woche mehr arbeiten. In Bonn wie in den Kommunen entbrannten dann 1966 lebhafte Debatten über Kürzungen und Streichungen bei staatlichen und kommunalen Ausgaben. Es kam zu gewerkschaftlichen Aktionen wie beispielsweise im September, als 1.000 MetallarbeiterInnen in einem Autokorso nach Bonn gegen die Kürzung der Kilometerpauschale für PendlerInnen und für ihr Recht auf preiswertes Autofahren protestierten. Sie verteidigten ein Symbol des im Zuge des Wirtschaftswunders erarbeiteten Wohlstandes.

Sinkende Geldzuweisungen des Bundes und des Landes an die Kommunen führten auch bei der Stadt Köln zu einer Diskussion über die Finanzpolitik. Der Stadtkämmerer vertrat auf einer Ratssitzung im Oktober 1966 die Meinung, daß eine Beschneidung der städtischen Ausgaben auf „Lebenswichtiges“ notwendig sei. Sein Haushaltsentwurf für 1967 sah – aus damaliger Sicht – beträchtliche Kürzungen bei den Geldern für Schulen, Kultur, sozialen Wohnungsbau sowie städtische Betriebe vor. Die Verantwortung für diese Sparmaßnahmen trug die SPD mit ihrer absoluten Mehrheit im Rat. Ihr Stimmenanteil war bei den Kommunalwahlen von 1964 auf 57,4 % hochgeschnellt. Bereits seit 1956 hatte mit dem populären Theo Burauen ein Sozialdemokrat das Amt des Oberbürgermeisters inne. Mit Heinz Mohnen stellte die SPD nun auch den Oberstadtdirektor. Er lehnte auf der bereits erwähnten Ratssitzung eine Erhöhung der Gewerbesteuer ab, wie Teile der Kölner SPD es forderten. Mohnen begründete seine ablehnende Haltung damit, daß die Wirtschaft in der Krise nicht noch stärker belastet werden dürfe, und er meinte damit die unternehmerischen Gewinne, nicht die Einkommen der ArbeitnehmerInnen.

Knapp einen Monat bevor im November 1966 die SPD in Bonn in die Große Koalition mit CDU und CSU eintrat, demonstrierten auch in Köln die SozialdemokratInnen damit in Begrifflichkeit und Taten „Regierungsfähigkeit“. Die SPD zeigte deutlich, daß sie inzwischen ihre Lektionen in kapitalistischer Markwirtschaft begriffen hatte, keine 15 Jahre nach dem Tod Kurt Schumachers, des Vorsitzenden, der ständig die unauflösliche Verbindung von Demokratie und Sozialismus beschworen hatte. Wie in der Großen Koalition in Bonn, so paßte sie sich auch in der Kommune der ökonomischen Strategie des bürgerlichen Mainstreams an, der zur Überwindung der Krise die Profitraten der Unternehmen stabilisieren und die eigentlichen Krisenlasten auf die Masse der Bevölkerung abwälzen wollte.

Im Zusammenhang mit dem Kölner Sparhaushalt stand eine geplante Fahrpreiserhöhung bei den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB). Sie wurde Ende September 1966 in der Stadt bekannt. Ein Aufschlag von einem Drittel sollte der KVB rund 27 Millionen DM Mehreinnahmen verschaffen, der Preis eines Einzelfahrscheins stieg damit von 90 Pfennig auf 1,20 DM. Um mehr als die Hälfte sollten ausgerechnet die Wochenkarten für SchülerInnen, StudentInnen und – wie es damals auch offiziell noch hieß – Lehrlinge steigen, von 2,50 DM auf 3,80 DM. Im Oktober formierte sich erster Widerstand gegen dieses Vorhaben. Die IG Metall, Betriebsräte der großen Metallunternehmen Felten & Guilleaume, Ford, KHD sowie die StudentInnenvertretungen an der Universität und der Pädagogischen Hochschule protestierten und sammelten Unterschriften.

Nachdem es so bei Teilen der BürgerInnen bereits gegärt hatte, wurden die Öffentlichkeit und die politische Leitung der Stadt am 21. Oktober, davon überrascht, daß es wegen der geplanten Fahrpreiserhöhung zur größten politischen Demonstration kam, die damals in Köln seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattgefunden hatte. Als Folge eines Kundgebungsaufrufs der Kölner SchülersprecherInnen hatten sich rund 7.000 Jugendliche – SchülerInnen, Studierende und Auszubildende – auf dem Neumarkt versammelt und waren dann vor das Rathaus gezogen. Dort riefen sie lautstark nach Oberbürgermeister Burauen. Weder dieser, noch irgend ein anderer der verantwortlichen Politiker oder Beamten ließ sich sehen, um vor der Menge eine Stellungnahme abzugeben. Offenbar zu diesem Zeitpunkt schlug die Stimmung unter den Demonstrierenden um: es kam zu erregten Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten mit der Polizei. Der Stadtschulsprecher, von der Anzahl und dem Verhalten seiner Altersgenossen überfordert, wollte die Demonstration über einen Lautsprecherwagen der Polizei beenden, was ihm nicht mehr gelang. Die Geschehnisse entwickelten ihre eigene Dynamik. Am folgenden Tag erschien der Kölner Stadt-Anzeiger auf der ersten Seite mit der Schlagzeile „Massenkrawalle in Köln“ und berichtete über mehrere Seiten. Demnach wurde bis in die Nacht hinein im ganzen Zentrum der Straßenbahnverkehr durch Sit-Ins auf den Schienen behindert, teilweise ganz blockiert. Teile der Jugendlichen warfen mit Eiern und Tomaten auf Bahnen wie auf Polizisten. Zwei Bahnen wurden zum Entgleisen gebracht.

Köln war auf zweierlei Weise schockiert. Einerseits erzählten aufgebrachte PassantInnen den Reportern, daß einige der 200 eingesetzten Polizeibeamten schon vor dem Rathaus die Nerven verloren und Demonstrierende prügelnd in Polizeiwagen gestoßen hätten. Auch später wären sie äußerst hart gegen die Jugendlichen mit Fäusten, Fußtritten und Gummiknüppeln vorgegangen. Die Mehrheit der Äußerungen, die der Kölner Stadt-Anzeiger zitiert, zeigt jedoch etwas von dem autoritären Mief der 50er und frühen 60er Jahre, dem wohl auch dieser kaum deeskalierend angelegte Polizeieinsatz entsprang. So kommentierte ein KVB-Direktor das Verhalten der Polizei gegenüber den Jugendlichen zufrieden: „Die treiben es ja auch zu weit.“ Ein unbekannter Beteiligter wird tatsächlich mit der heutzutage selbst als kabarettistische Einlage abgegriffenen Wendung zitiert: „Die Jugend hat einfach zu wenig Disziplin, das hätte es früher nicht gegeben.“ Der Kölner Polizeichef höchstpersönlich zeigte die engen Grenzen seines Demokratieverständnisses: Er werde nie wieder eine Schülerdemonstration erlauben, „und wenn sie noch so laut nach Demokratie schreien“.

Die Hilflosigkeit, mit der die veröffentlichte Meinung und städtische Institutionen auf die Ausschreitungen während der Demonstration reagierten, steigerte sich noch in der Nachlese, die in darauffolgenden Woche im Kölner Stadt-Anzeiger stattfand. Am 24. Oktober war es in der Innenstadt noch einmal zu Auseinandersetzungen zwischen 2.000 bis 3.000 DemonstrantInnen und der Polizei gekommen. Noch am Abend brachte die Polizei die Vermutung in Umlauf, an sich gutwillige kölsche SchülerInnen und Studierende wären politisch „unterwandert“ gewesen. Für eine solche Konstruktion reichte es in den 60er Jahren schon, daß einige Flugblätter der DFU (Deutsche Friedensunion) gefunden worden waren, einer Partei, in der viele KommunistInnen arbeiteten, die nach dem KPD-Verbot von 1956 ein legales politisches Betätigungsfeld suchten. Daß aber ausgerechnet die betont legalistische Friedensunion eine provokativ regelverletzende oder sogar militante Demonstration durchführen wollte, konnte nur simpel antikommunistisch strukturierten Zeitgenossen einleuchten, die aber ja nicht so selten waren. Peinlich, daß man auch Flugblätter der CDU auffand, die sich ja im Kölner Rat zumindest partiell in der Opposition befand. Nachdem die politische Unterwanderungsthese sich schnell als unhaltbar erwies, suchte die Polizei die Ursache für die Eskalation weiterhin vornehmlich bei den Demonstrierenden, diesmal bei „trüben Elementen“ und „Ganoven“ aus der Szene am Ring, da von rund 40 Festgenommenen nur die Hälfte aus SchülerInnen, Studierenden oder Auszubildenden bestand. Als sich aber auch dieser dürftige Erklärungsversuch zerschlug, da keiner der festgenommenen Jugendlichen zuvor jemals in Kontakt mit der Polizei geraten war, blieb einem Polizeioffizier nur noch tiefsinnige Gedankentrübnis: Er spekulierte über den „menschlichen Herdentrieb“ bei Massenaufläufen.

Viele hielten die Demonstrationen aber dann einfach für „unpolitische Krawalle“, eine Meinung, der sich offenbar auch die politische Spitze der Stadt anschloß. Die kommunalen PolitikerInnen und Spitzenbeamten verloren kein Wort mehr über die Proteste; man schaltete angesichts des „Drucks der Straße“ auf stur. Aktiv wurde die Stadt nur, um an den AStA-Sprecher Klaus Laepple Schadensersatzforderungen zu stellen und ihn gerichtlich zu verklagen. Im Kölner Stadt-Anzeiger erschien am Donnerstag ein Kommentar, in dem die Ignoranz der städtischen Spitze gegenüber den Demonstrierenden kritisiert wurde. Zugleich lobte der Kommentator den Mut der jungen Leute, die in einem Land politische Einmischung praktizierten, in dem seit Kaisers Zeit Ruhe erste Bürgerpflicht gewesen sei. Immerhin wurde damit die politische Dimension der Demonstrationen akzeptiert, auch wenn damit die erstaunliche Menge der Jugendlichen und ihre spontane Bereitschaft nicht erklärt wurde, bisher befolgte Regeln des alltäglichen Verhaltens in einer Weise zu überschreiten, die die meisten Erwachsenen aufs höchste provozierte.

Aus der heutigen Rückschau mag es viel einfacher sein, in den beiden großen Demonstrationen vom Oktober 1966 Auswirkungen der vielgestaltigen Jugendbewegung zu erkennen, die sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zuerst mit Rockmusik, längeren Haaren und anderen kulturellen Symbolen bemerkbar machte, die aber auch einen handfesten politischen Flügel entwickelte, der sich im berühmten Jahr 1968 zu Studentenunruhen vornehmlich in Europa und Nordamerika zuspitzte. Im Jahr 1966 lag die gewalttätige Demontage der Berliner Waldbühne anläßlich eines Rolling Stones-Konzertes schon ein Jahr zurück, hatten die Rolling Stones, die Kinks und andere das Lebensgefühl der jungen Generation gegenüber den repressiven Zügen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften musikalisch umgesetzt, am klarsten die Who: „People try to put us down / Talking bout my generation / … The things they do look awful cold / Talking bout my generation“. Da liegt es nahe, die fast ausschließlich von Jugendlichen getragenen Kölner Geschehnisse in diesen Zusammenhang einzuordnen. Dennoch verwundert es aus heutiger Sicht, daß in der damaligen öffentlichen Diskussion kein noch so zaghafter Querverweis auf diese gesellschaftlichen Grundströmungen stattfand. Wurde sie gar nicht oder nur als Randerscheinung wahrgenommen? Es scheint symptomatisch für das an der Oberfläche vom Kult ökonomischer Rationalität und Effizienz beherrschte, darunter mit unbewältigten autoritär-postfaschistischen Symptomen durchsetzte öffentliche Leben des Wirtschaftswunderlandes, daß das Aufbegehren der Jugendlichen von den meisten nur als Anmaßung und öffentliches Ärgernis begriffen wurde.

Wenn die IG Metall und ihre Betriebsräte zwei Tage nach den Vorfällen ihre Pläne für eine öffentliche Demonstration plötzlich fallenließen, so zeigte sich auch hier die gesellschaftliche Isolation der SchülerInnen und Studierenden. Welche anderen Gründe gab es zu diesem Zeitpunkt dafür, als daß man fürchtete, unerwünschte BündnispartnerInnen würden sich der Kundgebung anschließen? Die Kluft zwischen junger Generation und organisierter Arbeitnehmerschaft illustriert auch eine Pressemitteilung von KVB-Betriebsrat und KVB-Direktion, die in der trauten Sozialpartnerschaft der 60er Jahre darüber mutmaßten, ob die Fahrpreisermäßigung für SchülerInnen, Studierende, Auszubildende nun – zur Strafe – abzuschaffen wäre.

Die Jusos hatten sich nicht an der Organisation der Demonstrationen beteiligt, waren aber auf ihnen anwesend. Zwei Tage später führten sie eine öffentliche Veranstaltung durch, in der sie das Vorgehen der Polizei verurteilten und eine Untersuchung der Polizeiübergriffe im Landtag forderten. In einer dort beschlossenen Stellungnahme versuchten sie Verständnis für die Jugendlichen zu wecken, forderten jedoch nicht die Rücknahme oder Abschwächung der geplanten Fahrpreiserhöhung. Der Beschluß blieb auf halbem Wege stehen und forderte lediglich Gespräche der politisch Verantwortlichen mit Schüler- und StudentenvertreterInnen, ohne für diese ein Ziel anzugeben. Trotz einiger mutiger Aussagen wagten es die Jusos nicht, den traditionellen Druck in der SPD zur Geschlossenheit zu durchbrechen und eine nachträgliche Kurskorrektur anzumahnen. Man argumentierte stärker von einer Vermittlerposition zwischen demonstrierender Jugend und Sozialdemokratie und nicht als Interessensvertreter der Jugend in der Partei, indem man einer klaren Aussage über die Berechtigung der von den Jugendlichen aufgestellten Forderungen auswich. Stattdessen wurde versucht, den SPD-Unterbezirk an seinem machtstrategischen Pragmatismus zu pac ken, da die Demonstration schließlich die Anliegen der ureigensten Wählerschaft der Sozialdemokratie, der „sozial Schwächsten“, wahrgenommen habe. In Gesamtverantwortung für die SPD zeigte man sich über die „unverkennbar SPD-feindliche Grundstimmung der Demonstration“ besorgt und forderte deshalb „eine breite Aufklärungsarbeit über die finanziellen Zusammenhänge der Kölner Misere und der KVB-Tariferhöhung“ – nicht aber die Rücknahme derselben. Wie Linke in der SPD es oft tun, so meinten auch die Jusos im Oktober 1966 ein Auftreten als die ideellen Gesamt-SozialdemokratInnen pflegen zu müssen.

Sehr klar und fast prophetisch im Hinblick auf die nächsten Jahre deuteten sie dagegen die Demonstrationen als „wertvolle Ansätze zu einem gesellschaftlichem Engagement der Jugend, das wir bisher vermißt haben und dessen Fehlen wir seit Jahren beklagen“. In der Tat wurde seit längerem in allen Parteien die Politik-ohne-mich-Haltung der jungen Generation mit Besorgnis registriert. Insbesondere die SPD mußte sich fragen, warum die junge Generation von ihr so wenig wissen wollte, wo in der Bundesrepublik der 60er Jahre ihr 100jähriger Kampf für soziale Gerechtigkeit und Demokratie beträchtliche Erfolge aufweisen konnte, ja für manche SozialdemokratInnen das Vermächtnis der alten Arbeiterbewegung geradezu erfüllt war. Waren all diese Traditionen für die SPD nur noch ein Ballast? War die Marxsche Kapitalismuskritik hinfällig und nun hinderlich bei dem Versuch, neue Wählerschichten zu erschließen?

Führende SozialdemokratInnen beantworteten diese Frage entschieden mit „ja“ und meinten deshalb, sich in den Bemühungen um „Modernität“ nichts vorwerfen lassen zu können. Sie richteten mit leicht verärgertem Unterton Aufforderungen an „die jungen Leute“, wie Helmut Schmidt im Wahlkampf von 1965:

„Wie weit seid ihr bereit, euch zu engagieren für das öffentliche Wohl? Die Politik, die Regierung, die Öffentlichkeit braucht Euch und Eure Dynamik!“

Solche Appelle, sich für ein abstraktes Wohl der Gemeinschaft einzusetzen, mußten jedoch wirkungslos bleiben und waren wohl eher Bestandteil des Problems, das sie zu bekämpfen vorgaben. Durch den entschiedenen Schwenk hin zur bürgerlichen Mitte, den die SPD spätestens 1959 vollzog, trug sie entscheidend zur Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens bei. Im Vokabular und mit einer politischen Umarmungsstrategie gegenüber CDU / CSU und FDP wurden dem Harmoniebedürfnis und Volksgemeinschaftsdenken der Deutschen starke Konzessionen gemacht. Das Wort Sozialismus und das Denken in sozialen Konflikten und Interessensgegensätzen wurde als unmodern und überholt angesehen. Selbst manchem bürgerlichen Politiker wurde da schon unheimlich, wie Rainer Barzel (CDU), der 1964 die SPD in einer Fernsehdiskussion ermahnte: „Es gibt auch eine Pflicht zur Opposition.“

Der Nachteil dieses sogenannten „neuen Stils“ der SPD war, daß er keine wichtigen Konfliktlinien und Unterscheidungsmerkmale mehr in die Öffentlichkeit transportierte, die die Menschen zum demokratischen Engagement hätten motivieren können. Die Kölner Ereignisse im Oktober 1966 zeigten jedoch, daß die vollständige Entpolitisierung einer Gesellschaft nicht möglich ist. Als die SPD sich auf ein rein realpolitisches, an den wirtschaftlichen Machtverhältnissen orientiertes Politikmanagement verlegte, entfernte sie sich von der Stimmung wichtiger Bevölkerungsteile. SchülerInnen, StudentInnen und Auszubildende nahmen nun gegen eine sozialdemokratische Kommunalregierung „die Anliegen der sozial Schwächsten“ wahr, wie die Jusos feststellten. Sollten die Kölner Proteste im Oktober 1966 erste Ansätze einer neuen gesellschaftlichen Bewegung gewesen sein, so standen die Jusos vor der Frage, wie sie ihre Rolle sahen, zwischen der auseinanderklaffenden Schere von Teilen der Jugend auf der einen Seite, die mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden waren, und einer auf Regierungsfähigkeit und Annäherung an das bürgerliche Lager bedachten Mutterpartei auf der anderen.

2. Die Kölner Jusos 1965/66 in der SPD

Die Kölner Jusos besaßen seit den frühen 50er Jahren durchweg Vorstandsmehrheiten links vom SPD-Parteivorstand wie vom Bundesvorstand der Jusos. An der im vorangegangenen Artikel dargestellten, aktiven und politischen Ausrichtung ihrer Arbeit hatte sich auch nach der inhaltlichen wie strategischen Umorientierung der SPD um 1960 prinzipiell nichts geändert. Wie Andreas von Randow schrieb, spielte für die Kontinutität eines sozialistischen Demokratieverständnisses im Kölner Unterbezirk die marxistische Zeitschrift Sozialistische Politik ein wichtige Rolle. Sie erschien hier von 1954 bis 1966. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung schrieben in ihr regelmäßig bekannte SPD-Linke wie Wolfgang Abendroth oder Peter von Oertzen. Der Marxist und Trotzkist Georg Jungclas redigierte sie bis zu ihrer Einstellung. In der ersten Hälfte der 60er Jahre, als die innerparteiliche Diskussion in der SPD immer mehr eingeschlafen war, bot sie ein Forum für die Auseinandersetzung mit aktuellen politischen und mit programmatischen Themen auf hohem inhaltlichen Niveau. Auch durch personelle Verflechtungen wirkte sie in die Kölner Jusos hinein.

In dieser linken Tradition bewegte sich auch der nicht zur trotzkistischen Strömung gehörende Juso-Vorsitzende Franz Wendland, als er für den Juso-Unterbezirk in einem Protestbrief vom 21. November 1961 an den SPD-Parteivorstand forderte, seine Entscheidung über den Ausschluß des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) aus der SPD zurückzunehmen. Er wehrte sich dagegen, dem SDS „kommunistische Zersetzungsmethoden“ zu unterstellen und berief sich auf das Godesberger Programm, das verschiedene Denkrichtungen in der Partei ausdrücklich zuließe. Mit diesem undemokratischen Parteiausschluß einer ganzen Organisation, von dem auch eine Reihe namhafter Hochschullehrer aus der Fördergemeinschaft des SDS betroffen waren, sollte linke Kritik an der Wende zur „Volkspartei“ diszipliniert und aus der SPD gedrängt werden. Der Juso-Bundesvorstand hatte sich nicht für den SDS eingesetzt.

Unterschiede zwischen dem Kölner Juso-Vorstand und dem Juso-Bundesvorstand zeigten sich auch 1964 auf dem Feld der Ostpolitik. Weil die belgischen Jongsocialisten offizielle Kontakte mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der DDR aufgenommen hatten – in den 70er Jahren wurden solche auch für die deutschen Jusos selbstverständlich -, brach der Juso-Bundesvorstand alle Beziehungen zu den Jongsocialisten ab. Diesen Schritt machte der Kölner Juso-Unterbezirk nicht mit. Der damalige Beschluß des Juso-Bundesausschusses zeigte die Übernahme primitiv antikommunistischer Denkformen, wenn den Jongsocialisten tatsächlich vorgeworfen wurde, „von Kräften aus der sowjetischen Besatzungszone gesteuert“ zu sein. Daß diese Wortwahl keine einmalige Entgleisung war, zeigte sich 1972, als der Juso-Bundesvorsitzende von 1964, Günther Müller, aufgrund der Entspannungspolitik Willy Brandts das Parteibuch wechselte und dafür von der CSU mit einem Bundestagsmandat belohnt wurde.

Wenn man die Episode von 1964 in Beziehung zur späteren Ostpolitik Brandts setzt, wird deutlich, daß der Juso-Bundesvorstand in den frühen 60er Jahren noch weit davon entfernt war, eine parteiinterne Vorreiterrolle für die spätere Reformpolitik der SPD bis zu den friedens- und umweltpolitischen Parteibeschlüssen der 80er Jahre zu beanspruchen. Karlheinz Schonauer hat in seinem lesenswerten Buch (Die ungeliebten Kinder der Mutter SPD) ausführlich dargestellt, daß die Jusos von ihrer Wiedergründung 1946 bis Mitte zur 60er Jahre eine lammfromme und brave Parteijugend waren, die inhaltlich den jeweils gegebenen Stand der SPD widerspiegelte. Lieferant von NachwuchsfunktionärInnen und Bildungsorganisation für die Parteiarbeit sowie das hingebungsvolle Kleben von Plakaten in Wahlkämpfen waren Hauptinhalte der Juso-Arbeit. Die jeweilige Parteivorstandslinie vertrat der Juso-Bundesvorstand loyal innerhalb und außerhalb der SPD.

Dies galt auch nach dem Wandel der SPD von Kurt Schumachers eher verbalradikalem „Sozialismus als Tagesaufgabe“ und seiner Opposition gegen die Politik Konrad Adenauers hin zu einem Grundkonsens mit der CDU in den 60er Jahren. Es war nicht übertrieben, wenn der Juso-Bundesvorsitzende Hans-Jürgen Wischnewski 1961 in einem Rundfunkinterview beflissen versicherte:

„Es hat zwischen den Jungsozialisten und der Führung der sozialdemokratischen Partei tatsächlich niemals Spannungen gegeben. Die Jungsozialisten sind auch keine selbständige Organisation, sondern ein fester Bestandteil der sozialdemokratischen Partei.“

Die stereotypen Beteuerungen, die Jugendorganisation sei kein „Selbstzweck“, sondern fester Teil des „Parteiganzen“ gehörten zum damaligen Standardrepertoire eines Juso-Funktionärs. Damit wurden jedoch nicht akute organisatorische Selbständigkeitsbestrebungen abgewehrt, die es nicht gab. Im Rückblick auf das jugendlich-rebellische Image des Jungsozialismus der Weimarer Republik wurde mit diesem ständigen Ritual bei allen möglichen Gelegenheiten die Unterordnung der Jusos unter die Partei, d.h. der jeweiligen Parteiführung, versichert. Der Einzelne signalisierte zudem seine Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit als junger Sozialdemokrat. Denn mehr als heute galt eine Juso-Funktion damals nur als Sprungbrett für lukrative Ämter und Mandate, die die SPD vergab. Und insgesamt entsprangen solche Äußerungen auch einfach der in den 50er und frühen 60er Jahren übliche Anpassung an die vorherrschenden Ansichten und Verhaltensweisen.

„Schlagkraft und Macht durch Geschlossenheit“, dieses Motto war aus der 100jährigen Tradition der Sozialdemokratie beibehalten worden, wenn ansonsten auch das übrige Erbe mittlerweile von vielen MandatsträgerInnen der Partei im täglichen Umgang mit KollegInnen aus dem bürgerlichen Lager eher als peinlich empfunden wurde. An solchen ehernen Parteigrundsätzen als junges Mitglied zu zweifeln, wäre im konservativen Klima der Zeit als unappetitlicher Verstoß gegen die Gemeinschaftsregeln erschienen, womöglich, wenn mit linken Inhalten verbunden, als „kommunistische Zersetzungsmethode“ angeprangert worden.

Mit der ursprünglichen Vorstellung von einer durch lebendigen Streit von verschiedenen Meinungen und Richtungen gekennzeichneten Partei, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels 100 Jahre zuvor vertreten hatten, hatte diese innere Friedhofsruhe nichts mehr zu tun. Denn von der „Freiheit der Diskussion“ in der SPD wurde zwar immer wieder stolz gesprochen, sie war jedoch ein formales Recht geworden, von dem allgemein erwartet wurde, das es nur in bestimmten engen Grenzen in Anspruch genommen wurde. So war es beispielsweise auch auf Juso-Delegiertenkonferenzen der frühen 60er Jahre in der Regel gar nicht üblich, offen über Rechenschaftsberichte und andere Dinge zu diskutieren. Sie hatten mehr den Charakter von Kundgebungen, bei denen die Delegierten brav Beifall klatschten und mit mehr oder weniger kämpferischen Inhalten versehen wieder nach Hause fuhren. Es war ein bis dahin ungekannter Vorfall, als auf dem Hamburger Bundeskongreß 1965 einige Delegierte forderten, die Rechenschaftsberichte von Günther Müller und seinem Stellvertreter Peter Corterier zu diskutieren. Dies war in der Tagesordnung nicht vorgesehen, stattdessen sollte eigentlich ein Empfang beim Hamburger Senat stattfinden. In der ungewohnten Situation, kritische Fragen gestellt zu bekommen, verlor der respektable Müller die Nerven. Als ein junger Hamburger Delegierter seinen Arbeitsbericht als einen aussagelosen Neckermann-Katalog bezeichnete, vermerkte das Kongreßprotokoll seinen Zwischenruf: „Unverschämter Bengel!“ Im Zentrum der Angriffe einiger Delegierter stand die politische Untätigkeit des Vorstandes, der seit dem letzten Kongreß keinerlei eigene Initiativen vorzuweisen und die beschlossenen Anträge von damals einfach zu den Akten gelegt hatte.

Auf diesem Kongreß gingen die KritikerInnen des Juso-Bundesvorstandes in einer schweigenden Mehrheit noch deutlich unter, aber die Diskussionskultur und mit ihr die Verhältnisse in der Organisation begannen sich deutlich zu wandeln. Corterier beklagte sich im April 1966 vor dem SPD-Parteirat über seine eigene Basis, nämlich darüber, daß es besonders seit der Bundestagswahl 1965 eine gewichtige Minderheit von Jusos gäbe, die den Kurs der SPD in der Innen- und Außenpolitik ablehnten. Dies zeige auch eine Flut von 100 Resolutionsanträgen zu Themen wie Vietnam, den Notstandsgesetzen, dem Verhältnis zum SDS, der Ostpolitik u.a., wie man sie bisher nur bei Studentenorganisationen kenne. Selbstverständlich hätten die Jusos das Recht und die Pflicht, sich mit allen politischen Fragen zu beschäftigen, „wobei sie sich natürlich in den Rahmen der Politik der Partei einzufügen haben“. Hier zeigte sich wieder das engstirnige Parteiverständnis: Parteiloyal ist die feste Einordnung in die Eckpfeiler der gerade betriebenen Politik des Parteivorstandes, die die Grenzen dessen markieren, was (laut) gesagt werden kann. Die Beschäftigung mit allen politischen Fragen sollte erst da anfangen, wo das Grundsätzliche aus Beschlüssen und Reden der Parteiführung bereits herausgelesen und dogmatisch vorausgesetzt wurde. Man kann über den Kurs einer Organisation geteilter Meinung sein und inhaltlich streiten, aber eine solche formale Theorie aufzustellen, nach der die Beschlüsse der Partei von der Jugendorganisation nicht auch grundsätzlich – geleitet von den Grundwerten des demokratischen Sozialismus wie sie z.B. das Godesberger Programm formulierte – kritisiert werden durften, trug autoritäre Züge und erinnerte an das Fraktionsverbot in leninistischen Organisationen.

3. Die Große Koalition

Lange werden die Kölner Jusos sich im Herbst 1966 nicht mit den Jugenddemos anläßlich der KVB-Preiserhöhung beschäftigt haben, denn bereits einen Monat danach traten in Bonn Ereignisse ein, die die SPD vor eine Zerreißprobe stellten. Bei den Bundestagswahlen im September 1965 hatte die CDU/CSU/FDP-Koalition noch einen großen Sieg errungen, obwohl sie unter der Kanzlerschaft Ludwig Erhards bereits deutliche Abnutzungserscheinungen zeigte. Als im Jahr darauf die Wirtschaftskrise ausbrach, kam es zu einem Konflikt über das für 1967 drohende Defizit im Bundeshaushalt, in dessen Folge die FDP-Minister aus der Regierung austraten.

Anfang Dezember 1966 bildeten SPD und CDU ein gemeinsames Kabinett der Großen Koalition mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler und Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister. Es bedeutete für viele SozialdemokratInnen einen Schock, insbesondere an der Basis, von der sich ein großer Teil den traditionellen sozialdemokratischen Inhalten noch stärker verbunden fühlte, als es sich in der Politik der SPD-Führung ausdrückte. Das Bündnis mit den Konservativen und sein Zustandekommen ohne vorherige Diskussion in der Partei führten in den nächsten Jahren unter den Mitgliedern der SPD zu einer weit verbreiteten Oppositionshaltung und einem Wiederaufleben innerparteilicher Diskussionen.

Während die SPD an dieser Frage von oben nach unten gespalten war, hielt der Juso-Bundesvorstand Funkstille. Im SPD-Parteivorstand stimmte der stellvertretende Bundesvorsitzende Corterier für die Große Koalition. Versuche von Juso-Untergliederungen, mit Aktionen auf die laufenden Entscheidungsprozesse in Bonn einzuwirken und die Koalition zu verhindern, sind nur vom Bezirk Hessen-Süd, dem Landesverband Schleswig-Holstein sowie dem Kölner Unterbezirk bekannt. Während der entscheidenden Marathonsitzung der Bundestagsfraktion in der Nacht vom 26. auf den 27. November erschienen um Mitternacht rund 40 Jusos aus der benachbarten Domstadt und verlangten vor dem Bundeshaus, die Kölner Abgeordneten Hans-Jürgen Wischnewski und Hamacher zu sprechen. Der am nächsten Tag erschienene Bericht des damals anwesenden Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung lautete an dieser Stelle so:

„Mit erröteten Augen starren die Volksvertreter ihre aufgebrachten Wähler an, als seien Wesen aus fernen Welten vor ihnen erschienen. Auch der Wortführer der Jungsozialisten vermißte die Tuchfühlung zum Volk, die den Abgeordneten sonst so viel bedeutet: ‚Genosse Wischnewski, diese schwerwiegende Frage wird über unsere Köpfe hinweg einfach von einer kleinen Gruppe in der Parteiführung gemanagt. Wir fordern einen außerordentlichen Parteitag.‘ Die Jungsozialisten konnten sich auf einen vier Tage alten Beschluß der Unterbezirksdelegiertenkonferenz der Kölner SPD berufen, die sich mit überwältigender Mehrheit gegen die große Koalition ausgesprochen hatte. Hamacher berief sich seinerseits auf die Gewissensfreiheit des Parlamentariers und verschwand wieder im Fraktionssaal. Ein Juso rief ihm nach: ‚Da haben die Bürgerlichen aber schon ganze Arbeit geleistet‘.“

Um vier Uhr morgens stimmten schließlich rund 60 % der SPD-Bundestagsabgeordneten – eine genaue Auszählung unterblieb! – für die Vorlage des Fraktionsvorstandes. Der Parteirat segnete dies einen Tag später schon mit 80 % Ja-Stimmen ab; einen außerordentlichen Parteitag vermied die SPD-Führung.

Die Bildung der Großen Koalition lag in der logischen Konsequenz der seit den frühen 60er Jahren verfolgten Politik. Man müsse „manche Kröte schlucken“, es handele sich aber nur um eine „Zwischenstation“, sagte Herbert Wehner. Das Bündnis hatte die Zustimmung einer Mehrheit der BundesbürgerInnen, in deren Augen seine Regierungsarbeit erfolgreich verlief. Deshalb konnte die SPD sich bei den Bundestagswahlen 1969 auf einen Amtsbonus stützen und ihr bis dahin bestes Wahlergebnis erzielen. Es ist jedoch auch zu sehen, daß der rechtsextremen NPD der Einzug in sämtliche Landtage gelang, die in dieser Periode gewählt wurden. Und die SPD hatte, obwohl sie noch keine linke Konkurrentin besaß, bei den Wahlen 1967/68 durchschnittlich Verluste von fünf Prozent zu verzeichnen, die nach Detlef Lehnert signalisierten, daß „neue Bevölkerungsmehrheiten noch nicht gewonnen, enttäuschte Minderheiten aber bereits abgestoßen waren“.

Wenn die Gradwanderung einer Großen Koalition damals dennoch für die SPD eminent erfolgreich endete, dann wohl hauptsächlich aus zwei Gründen. Erstens konnte die Rezession 1966/67, die 1967 mit einer Arbeitslosigkeit von 2,1 % eine große Krisenstimmung erzeugt hatte, relativ schnell wieder in einen wirtschaftlichen Aufschwung überführt werden, mit dem die Arbeitslosigkeit verschwindend gering blieb. Die fetten Jahre, in denen genug zu verteilen war, waren noch nicht endgültig vorbei, die von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erzeugten Interessensgegensätze noch milde. So mancher sich jugendlich und aufgeschlossen gebende Firmenerbe zwischen 30 und 40 Jahren hätte sogar sozialdemokratisch gewählt, lauteten Gerüchte bei den Wahlen 1969 und 1972. Die SPD war – zumal in der Koalition mit der FDP – auch für die wirtschaftlichen Machteliten „regierungsfähig“, die sich in ihrem eigenen Interesse von ihr Reformen erhofften, für die die abgewirtschaftete CDU/CSU keine Kraft mehr aufgebracht hatte: Das Bildungssystem mußte auch aus Gründen ökonomischer Funktionalität ausgebaut, die Isolierung der deutschen Außenpolitik durch eine neue Ostpolitik beendet werden.

Zweitens hatte die Große Koalition unter damaligen Bedingungen jedoch noch ganz andere Wirkungen als die, die ihre Architekten geplant hatten. Das Regierungsbündnis der beiden großen Parteien wurde ein wichtiger Faktor für die Dynamik der Jugendprotestbewegung und der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, die ein Sprachrohr für das im Bundestag nun nicht einmal mehr ansatzweise repräsentierte gesellschaftliche Gegenlager sein wollte. Wenn die meisten BundesbürgerInnen auch die Auswüchse dieser Bewegung heftig ablehnten, so hatte diese doch maßgeblichen Anteil daran, daß Ende der 60er Jahre ein reformfreudiges und politikoptimistisches Klima entstand, in dem die SPD sogar mit ihrem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ zeitweise richtig offensiv wirkte.

4. Junge BürgerInnen in Bewegung

„The times they are a-changin'“: Mit seinem Song von 1963 hatte Bob Dylan dem Jahrzehnt in mancher Hinsicht das Motto vorgegeben. Der Erfolg seines Konzepts, Rockmusik mit anspruchsvollen Texten zu verbinden, beflügelte die Musikszene und zeigte, daß die Zeit eines naiven „I want to hold your hand“ vorbei war. Auch politisch wurden junge BürgerInnen nachdenklicher und gerieten in Bewegung. Die KVB-Proteste des Oktober 1966 stellten in Köln den Auftakt zu einer Reihe von öffentlichen Demonstrationen und Aktionen dar, mit denen StudentInnen und andere Jugendliche 1967/68 die KölnerInnen aus Untertanenmentalität und apolitischem Schlaf aufrütteln wollten. Bei der Mehrheit auf fassungsloses Unverständnis stoßend, gab diese Protestbewegung den Anstoß dafür, daß in den folgenden Jahren soziale Bewegungen und eine Kultur öffentlicher Einmischung entstanden, die die gesellschaftlichen Machtstrukturen zwar nicht grundlegend veränderten, aber ein Stück weit demokratisierten.

Den Kern der Proteste stellten auch in Köln die Studierenden, deren wichtigste Organisation der ehemals zur SPD gehörende SDS war. Er organisierte Ende Mai 1967 Aktionen anläßlich des Besuchs des Schahs von Persien, der im Rathaus von Oberbürgermeister Theo Burauen feierlich empfangen wurde. Der Herrscher des Iran stand an der Spitze eines der zahllosen Folterregimes der letzten Jahrzehnte in der „Dritten Welt“, bei denen es der Westen wegen wirtschaftlicher und sogenannter „geostrategischer“ Interessen mit Menschenrechten nicht so genau nahm. Die Bundesdeutschen konnten in den Medien über den Schah erfahren, daß er seinem Land den Fortschritt bringe – nach westlichen Maßstäben – und daß er, mit seiner schönen Kaiserin Farah Diba in prunkvollen Palästen lebend, eigentlich mehr eine Erscheinung aus einem Märchen sei. Um die StudentInnen einzuschüchtern, hatte die Kölner Polizei vor dem Besuch das Büro des SDS durchsucht und Flugblätter beschlagnahmt.

Ähnliches spielte sich in allen Städten ab, die das Kaiserehepaar besuchte. In West-Berlin, der Hochburg der StudentInnenbewegung, kam es am 2. Juni zu einem verfehlten und brutalen Polizeieinsatz, bei dem der Student Benno Ohnesorg von einem Kriminalbeamten von hinten erschossen wurde. Der Polizeipräsident hatte sein Einsatzkonzept so anschaulich gemacht: Die Demonstration sei vergleichbar mit einer Leberwurst, die man von beiden Seiten drücken müsse. Weges des Todes von Ohnesorg kam es in allen großen Städten der Bundesrepublik zu Protesten. In Köln fand am 5. Juni einen Trauermarsch von Studierenden statt. Am 7. Juni versammelten sich auf dem Neumarkt 6.000 Menschen. Der Soziologe Erwin K. Scheuch hielt dort eine Rede, in der er die weitverbreitete Ansicht zurückwies, demonstrierende StudentInnen seien Menschen zweiter Qualität, seien „Nichtstuer“ und „Gammler“, die den Staat bloß unnützes Geld kosteten. Auch sei das öffentliche Versammlungsrecht in Deutschland immer noch nicht populär.

Die Konfrontation zwischen Staatsgewalt, schweigender Mehrheit und der StudentInnenbewegung eskalierte erneut im nächsten Jahr, ein weiteres Mal von West-Berlin ausgehend. Der SDS hatte Anfang 1968 dort einen Vietnam-Kongreß mit 15.000 TeilnehmerInnen durchgeführt. Grußworte von Ernst Bloch, Jean-Paul Sartre, Herbert Marcuse, Michelangelo Antonioni, Peter Weiss und anderen Intellektuellen und KünstlerInnen zeigten, daß die StudentInnenbewegung für radikaldemokratisch und sozialistisch eingestellte Menschen zur eigentlichen Vorkämpferin für demokratische Werte geworden war. Für die meisten geriet dagegen die Bundesrepublik durch die Studentenrevolte in äußerste Gefahr, eine Haltung, die wenig demokratisches Selbstbewußtsein zeigte. Die scharfen Angriffe des SDS auf die bestehenden Verhältnisse, seine Kapitalismuskritik, seine unkonventionellen, teilweise militanten Aktionsformen wurden als der Wunsch interpretiert, in Westdeutschland Verhältnisse wie in den osteuropäischen Ländern einzuführen. Diese hatten aber für die Mehrheit des SDS mit Sozialismus so viel zu tun, wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Papstkult mit Jesus Bergpredigt. „Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt“ (Bild vom 7. Februar 1968) und andere Parolen, insbesondere der auflagenstarken Presse aus dem Springer-Verlag fielen auf einen fruchtbaren Boden. Während einer Kundgebung „Für Frieden und Freiheit“, die der SPD-regierte Berliner Senat als Reaktion auf den SDS-Kongreß und andere APO-Aktionen durchführte, versuchten anständige Berliner einen jungen Mann zu lynchen, der dem SDS-Sprecher Rudi Dutschke ähnlich sah.

An Gründonnerstag verübte schließlich ein 23jähriger Arbeiter einen Mordanschlag auf Dutschke, der an dessen Spätfolgen 1979 starb. An den Ostertagen 1968 kam es deshalb im ganzen Bundesgebiet und West-Berlin zu den bis dahin heftigsten Studenten- und Jugendunruhen, zu Blockaden der Springer-Verlagshäuser und Konflikten mit der Polizei. Auch auf Köln sprang die aufgeheizte innenpolitische Atmosphäre über. Hier blockierten am 13. April DemonstrantInnen das Pressehaus an der Breite Straße und im Gegensatz zu Berlin gelang es ihnen, die Auslieferung der Bild zu verhindern. Die monopolartige Stellung der Springer-Blätter, Pressekonzentration allgemein wurde zum innenpolitischen Thema. Am gleichen Tag legten aus Protest gegen den Vietnam-Krieg 1.500 Personen am Rudolfplatz den Verkehr lahm. Hatte sich bis dahin die Polizei zurückgehalten, so kam es dann ein oder zwei Tage später beim Ostermarsch zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden.

Durch die Protestbewegung änderten sich auch für die Kölner Jusos die Zeiten. Bei den Vorstandswahlen im Januar 1967, so erinnert sich Karsten Schulte, kam es zu einer spürbaren Linksverschiebung. Vom neuen Vorstand erwarteten sich Teile der Jusos ein entschiedeneres und aktiveres Auftreten als bisher. Erster Vorsitzender wurde Helmut Wendler. Von der Universität kamen in dieser Zeit viele neu politisierte Mitglieder in die Kölner SPD. Neben den Alt-Linken, die seit Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre in der SPD waren, trat bei den Jusos eine neue Generation, die den Schwung des gesellschaftlichen Aufbruchs in die Arbeit der Jusos einbrachte. „Ein Schub von Studenten war in den Lindenthaler Ortsverein eingetreten und zettelte dort gleich Diskussionen über Vietnam und andere Themen an“, berichtet Wendler, „und als Hans Peiffer mir eines Abends am Telefon erzählte, daß sie ausgerechnet im konservativen Lindenthal mehrere hundert Mark Spenden für für Vietnam gesammelt hatten, bin ich fast umgefallen.“ Die entstandene Protestbewegung schuf auch für SPD-Linke, die in und mit der Sozialdemokratie gesellschaftliche Veränderungen wollten, eine neue Situation. Um den Kontakt zu den kritischen Jugendlichen nicht zu verlieren, die eine bis dahin ungewohnt klare Sprache benutzten und in der Zeit der Großen Koalition wie nie zuvor auch SPD-kritisch waren, mußten die Jusos in öffentlichen Worten und Taten deutlich machen, wofür sie einstanden.

5. Vom papiernen Protest zur politischen Aktion

In der gewandelten Situation diskutierten die Kölner Jusos um 1968 über ihre Arbeitsgrundlagen und einigten sich in einem Grundsatzbeschluß: Die Politik der Jusos sollte eine Alternative gegenüber der konturlosen und entpolitisierten offiziellen SPD-Linie darstellen. Man bezog sich auf Vorstellungen der APO und begriff diese als eine Chance zur Erneuerung der SPD. Dazu sollte die Diskussion über programmatische Grundlagen der Sozialdemokratie wiederbelebt werden sowie ein sozialistisches Demokratieverständnis, das sich weder naive Illusionen über die Machtverhältnisse in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft macht noch sich mit diesen zynisch abfindet. Ähnliche Grundsatzerklärungen entstanden in dieser Zeit in einer Reihe von Juso-Untergliederungen. Sie bereiteten den Linksschwenk der Bundesorganisation vor, der im Dezember 1969 auf dem Münchener Bundeskongreß stattfand.

Erstmals seit einer Reihe von Jahren waren im Januar 1968 wieder die Juso-Informationen (JI) erschienen, als zweimonatliches Mitteilungs- und Diskussionsforum für alle Kölner „Genossen“, wie es ohne weibliche Form im Editorial stand. Aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, wurden die Jusos gleich mit der ersten Nummer in eine Auseinandersetzung mit dem Kreisvorstand der Kölner SPD verwickelt, weil man damals in der SPD jedes gedruckte Wort noch eine ganze Spur ernster nahm als heute. Einige Parteistellen hatten die Ausgabe als „Giftpfeil“ bezeichnet. Unter die süffisanten Überschrift „Schließen wir ’nen kleinen Kompromiß …“ übten beispielsweise Michael Klein und Manfred Güllner heftige Kritik am „Kölner Modell“. Der Kölner SPD-Vorsitzende und Vorsitzende der Ratsfraktion John van Nes Ziegler hatte kurz zuvor mit der CDU einen für Nordrhein-Westfalen tonangebenden Kompromiß in der Schulpolitik geschlossen, durch den konfessionelle Schulen weiter bestehen blieben, was in dem Artikel nicht zu Unrecht als Aufgabe einer sozialdemokratischen Konzeption bezeichnet wurde. Klein und Güllner, die von der Universität zu den Jusos gekommen waren, bewarben sich im nächsten Jahr für ein Stadtratsmandat. Beide waren typische Vertreter, so meinte Wendler heute, eines neuen Verständnisses von Kommunalpolitik als linker Basisarbeit, das in die Bürgerinitiativen der 70er Jahre mündete, während kommunalpolitisches Engagement von der Linken der 50er und frühen 60er Jahre nur als eher unpolitische Beschäftigung mit Kanaldeckeln und Bürgersteigen angesehen worden war.

Sozialdemokratische Programmatik, Sozialismus-Diskussion, Vorgänge in der Kölner SPD und im SPD-Bezirk Mittelrhein, der Vietnam-Krieg, Kölner Stadtplanung, die SPD-Parteitagsdemokratie, die Themen der JI in den Jahren 1968 und 1969 waren weitgespannt. Hier zeigte sich der Anspruch, auf allen die Jusos und die SPD betreffenden Ebenen mitzudiskutieren und einen eigenen dezidiert sozialistischen Standpunkt zu entwickeln. In kaum einem Artikel wurde nicht der Finger auf Schwachstellen sozialdemokratischer Politik gelegt: das Fehlen grundlegender gesellschaftspolitischer Ziele, der Widerspruch selbst zwischen Programmatik und politischer Praxis, die nicht wirklich gelebte innerparteiliche Demokratie usw. Jedoch wurden die Dinge in der Kölner SPD nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wurden. Ein nach einigen Querelen abschließend zustande gekommener Beschluß des SPD-Kreisvorstandes lautete tatsächlich schon unfreiwillig satirisch: „Es findet keine Vorzensur statt. Die Dinge müssen sich im Rahmen der Beschlüsse der Partei bewegen.“ – was sie natürlich nicht immer tun konnten, sonst wäre jede Diskussion überflüssig.

„Vom ‚papiernen Protest‘ zur politischen Aktion“, so enthusiastisch feierte Herwarth Achterberg, Mitglied des Kölner Juso-Vorstandes, schließlich in den JI den neuen verjüngten Juso-Bezirksvorstand, der auf der Konferenz in Rheinbach im Januar 1968 gewählt worden war und von dem er sich „eine wesentliche Aktivierung und Politisierung der Juso-Arbeit im Bezirk“ erhoffte. Nach einer, so berichtete er, von vielen politischen Diskussionen geprägten Tagung wurde schließlich eine Demonstration der Jusos Mittelrhein „gegen die US-Agression in Vietnam“ beschlossen, die zusammen mit den Falken, der Gewerkschaftsjugend, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) und dem SDS durchgeführt werden sollte.

Hier hatten die Jusos allerdings die Rechnung ohne den SPD-Bezirksvorstand gemacht, der einer solchen Kundgebung zustimmen mußte. Er hielt im turbulenten Frühjahr 1968 eine öffentlichkeitswirksame Stellungnahme der Jusos zum Vietnam-Krieg offenbar nicht für angebracht und drohte mit organisatorischen Konsequenzen, die von Rügen, Ordnungsverfahren, Funktionsverboten für Einzelne bis hin zur Auflösung des Vorstandes reichen konnten. Solche Maßnahmen fanden damals in der SPD nicht selten Anwendung. In Berlin wurden beispielsweise 1968 zwei Sozialdemokraten – einer war Harry Ristock, Mitglied im Landesvorstand der Jusos – wegen Teilnahme an der Vietnam-Demonstration des SDS aus der SPD ausgeschlossen.

Als der Juso-Bezirksvorstand bei den Gesprächen mit der SPD schließlich nachgab und auf eine Saalveranstaltung ausweichen wollte – ein Ausweg, den die SPD offenließ -, traten die vier Kölner Vorstandsmitglieder zurück. In Daneben, der Zeitschrift der Jusos Mittelrhein, begründeten sie im April diesen Schritt damit, daß das Zurückweichen des Juso-Bezirks das organisatorische und politische Selbstverständnis der Jusos berühre. Es sei nicht hinzunehmen, daß Beschlüsse von Juso-Konferenzen, die ein Mandat der Mitglieder hätten, durch den Druck eines Parteigremiums einfach ausgehebelt werden könnten. Dies beschädige zudem die Glaubwürdigkeit der Jusos gegenüber kritisch eingestellten Jugendlichen außerhalb der SPD. Auch im politischen Stil lagen Welten zwischen Jusos und der SPD. Er hätte, so schrieb der Kölner Juso-Vorsitzende Wendler in der zweiten Ausgabe der JI, in zähen Verhandlungen mit dem SPD-Bezirksvorsitzenden Karl Wienand zeitweise das Gefühl gehabt, „als befände man sich auf einem Schweinemarkt in Roßbach an der Sieg, wo man versucht, den Handelspartner mit Bauernschläue und List übers Ohr zu hauen“. Schließlich fand die Demonstration dennoch im Frühjahr 1968 in Bonn statt, finanziert und organisiert von den Juso-Unterbezirken, ohne daß diese mit ihren jeweiligen Parteigliederungen Probleme gehabt hätten.

6. Notstandsgesetze: Wer rettet die Demokratie vor ihren Rettern?

Der nächste innenpolitische Höhepunkt des turbulenten Jahres 1968 war die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze. Die Regierungsparteien begründeten die dafür notwendige Änderung des Grundgesetzes damit, daß die noch bestehenden Vollmachten der ehemaligen drei Besatzungsmächte abgelöst und die Bundesregierung in äußeren und inneren Krisensituationen aktionsfähig bleiben müsse. Als der Bundestag am 30. Mai 1968 von starken außerparlamentarischen Protesten begleitet die entsprechende Änderung des Grundgesetzes vornahm, hatte die SPD zwar Modifizierungen der ursprünglich putschistisch gefärbten CDU-Pläne durchgesetzt, dennoch fiel sie hinter ihre früheren Parteitagsbeschlüsse zurück. Als Bedrohung der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ kann eine Regierung seitdem auch einen politischen Streik zur Veränderung der Wirtschaftsordnung auslegen und den Notstand ausrufen. Erneut war die SPD, wie schon beim Eintritt in die Große Koalition, gespalten. Knapp über fünfzig SPD-Abgeordnete stimmten mit der FDP gegen die Regierungsvorlage. Der Gewerkschaftsflügel der SPD und der linke Flügel der Jusos (auch die Jusos Mittelrhein) folgten dem Standpunkt des DGB, der generell eine Verfassungsänderung für nicht notwendig hielt, weil die bestehenden Gesetze bereits zur Abwehr wirklicher Krisensituationen ausreichten. Andere SozialdemokratInnen um Hans Matthöfer waren nicht grundsätzlich gegen eine Grundgesetzänderung, sahen bei den vorliegenden Entwürfen aber die demokratischen Grundrechte nicht mehr gewährleistet und hielten den Einsatz der Bundeswehr im Inneren für höchst bedenklich.

Im ganzen Bundesgebiet fanden im Laufe des Mai 1968 Proteste und Streiks gegen die „NS-Gesetze“, wie sie oft genannt wurden, statt. Beim „Sternmarsch auf Bonn“, den das von der IG Metall mitgetragene „Kuratorium Notstand der Demokratie“ organisiert hatte, beteiligten sich – je nach Angaben – zwischen 50.000 und 100.000 Menschen. In Köln kam es zu einer Streik- und Protestwelle in Kölner Betrieben, an der Universität und in Schulen. Am 28. Mai versammelten sich 5.000 ArbeiterInnen und Studierende bei einer Demonstration der IG Druck und Papier auf dem Alter Markt, am 29. Mai blockierten 1.000 SchülerInnen wieder den Rudolfplatz, eine Demonstration von 2.000 Jugendlichen zog durch die Innenstadt.

Die Heftigkeit der gesellschaftlichen Opposition gegen die Notstandsgesetze ergab sich vor dem Hintergrund der bis dahin kaum aufgearbeiteten faschistischen Vergangenheit der Deutschen und ihrer kollektiven Vergeßlichkeit, die in einem Buch des Psychoanalyikerehepaars Mitscherlich 1965 als Die Unfähigkeit zu trauern charakterisiert wurde. KritikerInnen der Gesetze bis ins liberale Lager hinein fürchteten, daß die bürgerlichen Eliten der Bundesrepublik, von denen viele im Dritten Reich versagt hatten oder gar mit dem Nationalsozialismus verflochten waren, keine wirkliche demokratische Grundeinstellung, die auch in Krisenzeiten bestand hatte, besaßen. „Im Hintergrund immer die beiden Undiskutablen, die beiden Untragbaren und Unerträglichen: Lübke und Kiesinger“, schrieb Heinrich Böll und spielte auf die Verstrickung des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers in das NS-Regime an. Kumpanei mit dem Schah, reaktionäre Springer-Presse, prügelnde Polizei und nun die leichtfertig geplante Preisgabe von Freiheits- und Grundrechten im „Notstand“: Für große Teile der jüngeren Bevölkerung schien bestätigt, daß zumindest Teile der älteren Generation nichts dazugelernt hatten.

Für die SPD zeigte sich im Jahr 1968 deutlich, daß ihre Zusammenarbeit mit den Konservativen ihre Integrationsfähigkeit nach links gefährdete und die Große Koalition bald beendet werden mußte. Durch Anpassung an die ehemals bekämpften Realitäten der Adenauer-Republik hatte sie sich seit zehn Jahren bemüht, für die bürgerlichen Eliten respektabel, bei der Bevölkerung mehrheitsfähig zu werden. Die SPD war in äußerstem Maß pragmatisch geworden, die Orientierung an kurzfristigen Erfolgsleitbildern überwog alles andere. Als der Führungsschicht der SPD in Bund, Ländern und Kommunen das Ziel einer SPD-geführten Bundesregierung nach 17 Jahren Opposition – 1949 bis 1966 – zum Greifen nahe erschien, kam es zum Aufbegehren von Teilen der jüngeren Generation, die das opportunistische Mitläufertum der Vätergeneration im Dritten Reich ebenso abstieß wie auch die geistige und ethische Leere des Wirtschaftswunderlandes. Die junge Generation war auf der Suche nach glaubwürdigen Orientierungen und alternativen Wertvorstellungen jenseits des Etablierten. Diejenigen, die sich um 1968 (und später) für ein Engagement in der Jugendorganisation der SPD entschieden, fanden diese bei sozialistisch-radikaldemokratischen Vorstellungen, die einst die Geschichte der SPD geprägt hatten, die aber in der politischen Praxis weitgehend verschüttet waren. Mit der SPD schienen Veränderungen in der Bundesrepublik möglich, gerade weil die Programmatik, Anschauungen und gesellschaftliche Lage ihrer Mitglied- wie der Anhängerschaft immer noch genügend Ansatzpunkte für solche boten. Der Kampf um Veränderungen mit der SPD war dann aber auch ein Kampf um die Veränderung der SPD. Letzteres wurde großen Teilen der Jusos spätestens seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze immer mehr bewußt. Wachsende Teile von ihnen gelangten zu einer Einschätzung der SPD, wie sie beispielhaft das „Haushammer Manifest“ der bayrischen Jusos 1968 formulierte:

„Unsere Partei ist systemverhaftet, weil sie sich nicht nur – was von ihr selbstverständlich erwartet wird – zur demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik bekennt, sondern in allen wesentlichen Punkten zu der von Adenauer und seiner restaurativen CDU/CSU geprägten Gesellschaft mit all ihren spätkapitalistischen Erscheinungsformen. Sie hat ihren grundsätzlichen Veränderungswillen preisgegeben.“

Dies brachte diese Teile der Jusos dazu, zu überlegen, wie sie ihre inhaltliche Positionen entschiedener und gezielter als bisher in die Praxis umsetzen und organisiert als Jusos Einfluß ausüben konnten. Spätestens dann, das war vorauszusehen, hörte für viele SozialdemokratInnen, die bis dahin schon die Äußerungen ihrer Jugendorganisation mit Argwohn zur Kenntnis genommen hatten, der Spaß endgültig auf.

7. Gespannte Lage: Jusos und SPD 1968/69

Mit der Politisierung der bis dahin so braven Parteijugend wurde das Verhältnis zwischen Jusos und SPD zunehmend gespannter. Auf die sich von unten entwickelnde Linksverschiebung der Jusos reagierten SPD-Parteivorstand und SPD-Gliederungen für heutige Verhältnisse oft und rasch mit administrativen Strafen. Schon ein Beitrag in einer örtlichen Falken-Zeitschrift oder ein Redebeitrag konnten zu Rügen, zeitweiligen Funktionsverboten oder mehr führen. Die sich seit Godesberg als „Volkspartei“ verstehende SPD pflegte in organisatorischer Hinsicht noch ganz die Tradition der Arbeiterbewegung, einen Zentralismus, der sich notfalls auch mit bürokratisch-autoritären Mitteln Geltung verschaffte. In der Öffentlichkeit stieß das damals nicht unbedingt auf Mißbilligung oder Protest. Noch heute ist die innere Willensbildung der Parteien ein blinder Fleck in der Medienberichterstattung, sie interessiert kaum. Und wie schnell bezeichnen auch heute KommentatorInnen eine Partei als zerstritten, einen Vorstand als „beschädigt“, auch wenn eine Kritik konstruktiv und sachorientiert ist. Und in der Standortdiskussion der restaurativen 90er Jahre geraten demokratischer Streit, die Interessensvertretung sozialer Gruppen und die Parteien selbst wieder stärker pauschal in Verruf, weil sie nicht dem „Gemeinwohl“, sondern nur den „Einzelinteressen“ der Politikerkaste oder bestimmter sozialer Gruppen dienen würden. Die berechtigte radikaldemokratisch motivierte Parteienkritik droht demgegenüber in den Hintergrund zu geraten.

Wischnewski, mittlerweile SPD-Bundesgeschäftsführer, setzte Ende 1968 im Übrigen den Versuchen, die unbequem werdenden Jusos administrativ zu disziplinieren, die Krone auf. Er gab der überraschten Partei die Absicht bekannt, die Altersgrenze für Jusos von 35 Jahren deutlich abzusenken. Allgemein war klar, daß die Parteiführung sich so der erfahrenen Juso-FunktionärInnen entledigen und den Jusos wieder die Funktion einer Spielwiese für braven Parteinachwuchs zuweisen wollte, auch wenn er dies natürlich öffentlich nicht so begründete. Zwei Drittel aller damaligen Juso-Vorstände wären auf einen Schlag über die „Bio-Klippe“ gesprungen. Die Kölner Jusos begriffen in einer am 4. Dezember verabschiedeten Protestresolution auch das Vorgehen als höchst undemokratisch, daß „ein kleines Spitzengremium über die politische Arbeit von Hunderttausenden entscheidet.“ Die Jusos seien offenbar für den Parteivorstand nicht ein Träger politischer Willensbildung, sondern „ein Objekt, mit dem man beliebig verfahren kann“ – eigene Erfahrungen mit örtlichen SPD-Gliederungen spielten bei diesen Worten sichtlich mit hinein. Bezeichnend für die Spannungen in der Kölner SPD war, daß der SPD-Unterbezirksvorstand es ablehnte, die Resolution weiterzuleiten. Der SPD-Parteivorstand scheute jedoch letztlich vor einem offenen Konflikt mit den Jusos zurück und ließ seine Bemühungen 1970 im Sande verlaufen.

Die Verabschiedung der Notstandsgesetze hatte für Teile der Jusos so starken Symbolcharakter gehabt, daß bereits im Mai 1968 hier und da angekündigt wurde, das Abstimmungsverhalten der einzelnen Bundestagsabgeordneten würde bei der innerparteilichen Kandidatennominierug für den 1969 zu wählenden Bundestag von großer Bedeutung sein. Tatsächlich kam es 1969 zu Ansätzen einer innerparteilichen Bewegung, als sich Juso-Gliederungen bundesweit zum ersten Mal in größerem Umfang bei den Kandidatenwahlen engagierten. Waren dies im Vergleich zu den 70er Jahren nur Anfänge, so wurden die innerparteilichen Wahlen damit doch schon lebendiger und stärker mit politischen Ansprüchen der Basis verbunden. Im Bezirk Hessen-Süd, wo die Jusos in dieser Hinsicht 1969 am aktivsten waren, gab es beispielsweise 1965 nur bei 25 Mandatswahlen Gegenkandidaturen, vier Jahre später hatten sich diese Zahl verdreifacht. In Karlsruhe präsentierten die örtlichen Jusos sogar einen Gegenkandidaten zu ihrem Bundesvorsitzenden Peter Corterier, der als Bundestagsabgeordneter für die Notstandsgesetze gestimmt hatte.

In Köln unterstützte der Juso-Vorstand die Kandidatur des Betriebsratsvorsitzenden der Ford-Werke, Günter Tolusch, gegen Hans-Jürgen Wischnewski, der sich jedoch mit sicherer Mehrheit durchsetzte. Schon allein als prominenter Vertreter der abgelehnten offiziellen Parteilinie war Wischnewski sicherlich die Zielscheibe heftiger Juso-Kritik. Hinzu kam allerdings, daß für „Ben Wisch“ die breiten Mehrheiten, die auf Unterbezirksparteitagen der Kölner SPD sowohl gegen den Eintritt in die Große Koalition als auch gegen die Notstandsgesetze zustandegekommen waren, kein Maßstab für sein Abstimmungsverhalten in Bonn gewesen waren. Die Frage der Jusos war höchst berechtigt, warum ein Politiker einen Kölner Wahlkreis erhalten sollte, der in wesentlichen Inhalten nicht die Kölner SPD widerspiegelte. Es gab ja noch andere Wahlkreise oder die Landesliste. Letztlich schreckte die Mehrheit der Kölner Delegierten jedoch davor zurück, einen prominenten Genossen stärker an seinem politischen Verhalten zu messen als an seiner gemütliche Wahlerfolge versprechenden Popularität. Oder wollten vielleicht einige die eigenen Parteitagsbeschlüsse am Ende gar nicht so furchtbar ernst genommen sehen, immer auf die stille Geduld von Resolutionspapier vertrauend?

Der Versuch, die SPD inhaltlich zu erneuern, führte die damalige Juso-Generation auch zwangsläufig zur Frage der innerparteilichen Demokratie. Kritik an der Ämterhäufung einzelner Personen, innerparteilichem Personenkult, Entscheidungen von Vorständen ohne oder gegen Diskussionsprozesse der Mitgliederbasis u.a. finden sich in Papieren und Artikeln jener Jahre immer wieder. Insgesamt steckte die Diskussion über eine neue sozialistische Strategie in den späten 60er Jahren allerdings noch zu sehr in den Anfängen, um auch in der Frage der demokratischer Strukturen von Bewegungen und Institutionen zu konkreten Ergebnissen zu führen. Die im breiten Maßstab gerade wiederentdeckte Literatur der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung wurde dabei vielfach zu traditionsverhaftet ausgelegt, bewirkte aber zumindest eine positive Höherschätzung von Aktivitäten und demokratischer Einflußnahme der Basis.

Auf der anderen Seite gab es spontane Experimente, die aber offenbar nicht in organisationspolitische Reformforderungen umgesetzt wurden. Im Frankfurter Juso-Vorstand hatten beispielsweise auch nicht zum Vorstand gehördende Mitglieder Stimmrecht. Eine Umfrage des Juso-Bundessekretariats zum Jahreswechsel 1968/69 ergab, daß in drei Viertel aller örtlichen Juso-Arbeitsgemeinschaften (AGen) Jugendliche ohne SPD-Parteibuch praktisch mitarbeiteten. Sie machten sogar rund 25% dieser Gruppen aus. Der Einfluß der APO führte also zu frühen Versuchen, die SPD zu öffnen und vielfältige Formen des Partei-Engagements zu schaffen, die in ähnlicher Weise bei der Parteireformdebatte auftauchten, die Anfang der 90er Jahre in Teilen der SPD geführt wurde. Die damaligen Ansätze gingen gegen Ende der 70er Jahre wieder verloren, als das traditionelle Parteikonzept nicht mehr in Frage gestellt wurde.

Jedenfalls war es gerade das bewußte Überschreiten der Grenzen des althergebrachten Organisationsverständnisses, das den Juso-Vorstand Ende der 60er Jahre für manche SozialdemokratInnen zu einem ständigen Ärgernis machte. „Die in der Juso-Arbeit entwickelten Konzepte sollten auch als eigene politische Aussage zu einer öffentlichen, nicht nur parteiinternen Diskussion führen“, beschrieb Michael Klein eine der wesentlichen Arbeitsgrundlagen des Juso-Vorstandes in den JI Nr. 6 von 1969. Das waren keine leeren Ankündigungen. Der säuberlich gezogene Trennungsstrich zwischen parteiinternen Vorgängen und der Öffentlichkeit, der der SPD-Rechten seit jeher dazu diente, die sozialdemokratische Linke zu domestizieren, wurde auch in der Praxis überschritten. Dies bedeutete nicht nur, daß die Jusos bei der außerparteilichen Basis für ihre Ziele um Unterstützung warben. Mißfallen erregte bei der SPD-Rechten vermutlich stärker, daß damit das Harmoniebedürfnis der unpolitischen MittewählerInnen strapaziert wurde, die von politischen Konflikten und Entscheidungsalternativen unbehelligt sein wollen. Solches geschah beispielsweise, wenn der Kölner Juso-Vorsitzende Wendler eine Rede bei der „Internationalen Sozialistischen Mai-Manifestation“ hielt, einer linken Bündnis-Veranstaltung, die am 1. Mai im Anschluß an die offizielle DGB-Kundgebung stattfand, die damals betont staatstragend und wenig inhaltlich gestaltet war.

Jusos, Falken, SHB, SDS, der Republikanische Club und verschiedene Organisationen von AusländerInnen trugen sie. Zum Abschluß sang man die Internationale. In den kommenden Jahren fand diese Veranstaltung wiederholt statt, bis sich der DGB mit den linken Gruppen und den „Gastarbeitern“, wie sie damals genannt wurden, wieder auf eine gemeinsame Gestaltung der 1. Mai-Kundgebung verständigte.

Solche öffentlichen Auftritte der eigenen Jugendorganisation waren vielen in der SPD natürlich ein Dorn im Auge, regten aber oft mehr die mittlere Ebene der Kölner SPD als ihre Spitze auf. Kurz nach der 1. Mai-Manifestation ließ sich beispielsweise van Nes Ziegler von Helmut Wendler das Manuskript seiner dort gehaltenen Rede geben, wie letzterer berichtet. Nach kurzem Überlesen gab der abgeklärte Polik-Manager – damals in Personalunion Vorsitzender der Kölner SPD, der Stadtratsfraktion und Präsident des NRW-Landtages – es ihm zurück und gab zu verstehen: halb so wild. Und wenn der Soziologe Güllner in den JI 1969 in einem heute noch lesenwerten Artikel „Parteitage: Orte des Dahindämmerns in Monotonie?“ mit der Fiktion aufräumt, Parteitage könnten jemals auch nur ansatzweise etwas mit den ihnen im Parteistatut zugeschriebenen demokratischen Funktionen zu tun haben, werden die in der Parteitagsregie erfahrenen Ober-GenossInnen hinter verschlossenen Türen nur geschmunzelt haben. Auch als die Jusos in Köln wie anderswo begannen, organisiert die innerparteiliche Verteilung von Mandaten und Ämtern für sich zu nutzen, gerieten zwar hier und dort alte Erbhöfe in Gefahr. Andererseits taten sie damit letztlich doch den klassischen Schritt, mit dem unbequeme SPD-Linke auf Dauer oft eingebunden oder zur Anpassung an die Mehrheitslinie gebracht werden. In der Tat wurden zwei Mitglieder des Juso-Vorstandes, Klein und Güllner, für die Stadtratswahlen 1969 als Kandidaten aufgestellt.

8. Der Streit um den Bundestagswahlkampf 1969

Das Maß des Erträglichen war schließlich dann ausgeschöpft, als es um Wahlkampf ging – in der SPD damals wie heute das Maß aller Dinge. Natürlich muß auch eine noch so weit für unterschiedliche Richtungen und Arbeitsformen offene Partei an einem bestimmten Punkt Gemeinsamkeiten in Positionen und im Handlen aufweisen, um als Organisation des politischen Machtkampfes funktionsfähig zu sein. Aber wirkliche Einheit gibt es nur in der Vielfalt. Deshalb ist die entscheidende Frage: War das Verhalten des Kölner SPD-Vorstandes darauf abgestimmt, für eine nur der Fiktion nach einheitliche Partei, in Wahrheit eine mit sehr unterschiedlichen Gruppen, den Wahlkampf so zu leiten, daß jede innerparteiliche Gruppe ihre Stärke, ihre Motivation, ihren Schwung für das Ziel maximaler Stimmengewinne der Gesamtpartei einbringen konnte? Dann hätte sie dem Juso-Vorstand nicht die Plakatierung für den Kandidaten, mit dem die Jusos bekanntermaßen aus sehr politischen Gründen heraus nicht gut konnten, aufzwingen dürfen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß verschiedene KandidatInnen – teilweise aus persönlichen Gründen, überwiegend aber aufgrund der politschen Ausrichtung – von den Basisgliederungen der SPD unterschiedlich unterstützt wurden und werden. Die damaligen Ereignisse führen auch zu der heute noch gültigen Frage: Warum macht man es den Mitgliedern, Ortsvereinen und Arbeitsgemeinschaften dann nicht möglich, die von ihnen bevorzugten KandidatInnen schwerpunktmäßig zu unterstützen? In der heutigen, vom Individualisierungsprozeß geprägten Gesellschaft wird es einer Partei schwerfallen, durchschnittlich selbstbewußtere Menschen für eine Mitarbeit zu gewinnen, wenn das innere Leben der Parteien weiter den Eindruck verbreitet, es müsse die Pflicht und der Stolz eines Parteimitglieds sein, sich auch gegen konkrete innere Zweifel ab und zu zu Handlungen „rannehmen zu lassen“, wie es früher hieß.

In einem ersten Schreiben vom 30. April hatte der Juso-Vorstand jedenfalls seine Bereitschaft klar ausgesprochen, sich auch bei einer Parteilinie, die man generell nicht für richtig hielt, vom SPD-Vorstand Arbeiten übertragen zu lassen, sofern man nicht „Kandidatenplakate“ kleben sollte, eine Formulierung die man als diplomatischen Versuch sehen kann, den Namen Wischnewskis aus dem Spiel zu lassen. Die Vorbehalte gegen diesen ergaben sich, dies sei noch einmal wiederholt, in erster Linie aus seinem politischen Eintreten für die Notstandsgesetze und die Große Koalition. Erst als der SPD-Unterbezirksvorstand den Kompromißvorschlag der Jusos zurückgewiesen hatte und auf seiner alleinigen Entscheidungsgewalt darüber beharrte, wer welche Plakate wo klebt, ging der Juso-Vorstand am 27. Mai dazu über, anzubieten, die Partei selbst könne die Juso-Mitglieder für Plakatierungsaufgaben ansprechen: ein Formulierung, mit der man indirekt sagte, daß man selbst sich nun ganz aus der Plakatierung – im übrigen jedoch nicht aus den übrigen eigenen Wahlkampfaktivitäten der Jusos – zurückzog. Aber dies war eine Folge der kompromißlosen Haltung des SPD-Unterbezirksvorstandes.

Die ganze Affäre im Frühjahr 1969 war natürlich mit den üblichen Begleiterscheinungen verbunden: Aufgeregtheiten, böse Worte und einer Reihe von Juso-Mitgliederversammlungen, zu denen alle Seiten AnhängerInnen mobilisierten. Dennoch kam es nicht dazu, daß der Juso-Beschluß zum Wahlkampf rückgängig gemacht wurde. Der Juso-Vorstand hatte also die Unterstützung der Mehrheit der Kölner Jusos. Als dies klar war, faßte der Unterbezirksvorstand der SPD am 8. Juli 1969 seinen Beschluß, den Vorstand mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Elf Parteiausschlußverfahren schlossen sich später an. Hier kamen zum ersten Mal Differenzierungen im bis dahin einheitlich auftretenden Juso-Vorstand auf. Im Gegensatz zu einer Gruppe um den Vorsitzenden Helmut Wendler haben Manfred Güllner, Michael Klein, die bisher nicht erwähnten Bernd-Ulrich Drost, Hans-Josef Michels u.a., die den Wahlkampf-Beschluß bis zum Schluß mitgetragen hatten, schließlich doch zurückhaltende Erklärungen abgegeben, die es ihnen ermöglichten, in der SPD zu bleiben. Sie sahen ihre politische Perspektive trotz aller Probleme und desillusionierenden Erfahrungen nur in einer Arbeit in der Sozialdemokratie.

Diese Vorgänge des Jahres 1969 sind verschiedentlich mit dem Einfluß der trotzkistischen Gruppe im Vorstand – Helmut Wendler, Herwarth Achterberg, Hans Peiffer und noch ein weiteres Mitglied – in Verbindung gebracht worden. Diese waren Mitglieder der Deutschen Sektion der IV. Internationale. Die politische Entwicklung der 60er Jahre bewirkte, daß sie sich von der SPD weg entwickelt hatten, so Wendler heute. Spätestens seit Anfang 1969 trafen sie Vorbereitungen zu einer neuen revolutionär-sozialistischen Jugendorganisation, zu der sie auch Mitglieder von Falken und Jusos planmäßig gewinnen wollten.

Es war selbstverständlich ein unsolidarisches Verhalten (das in der Konsequenz des politischen Konzepts des Entrismus lag), sich für verantwortliche Vorstandsaufgaben wählen zu lassen und diese Position teilweise zu nutzen, um eine neue Organisation zu gründen. Die Entscheidung der einzelnen Personen, die SPD zu verlassen, aber als zwangsläufige Folge der Zugehörigkeit zur trotzkistischen Strömung zu erklären, wäre verschwörungstheoretisch motiviert. Warum sie nicht primär auf die damaligen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zurückführen? Es hat in der Geschichte der SPD immer wieder SozialistInnen gegeben, die die Partei an einem bestimmten historischen Zeitpunkt verließen, um links von ihr eine neue zu gründen. Willy Brandt hat dies auch einmal gemacht. Genauso läßt sich sagen, daß diese Versuche bisher äußerst erfolglos waren, aus Gründen, die sorgfältig analysiert werden müssen. Es kann nach dieser Darstellung der Geschehnisse vor der und um die Auflösung des Kölner Juso-Vorstandes jedoch keine Rede davon sein, daß „trotzkistische Einflüsse“ auf die Politik der Kölner Jusos den Wahlkampf-Beschluß oder andere, die Situation im Vorfeld verschärfende Ereignisse herbeigeführt haben. Daß sich Jusos im Jahr 1969 weigerten, für bestimmte BundestagskandidatInnen Wahlkampf zu machen und stattdessen teilweise andere unterstützten, deren politisches Profil ihren Vorstellungen mehr entgegenkam, war im übrigen keine Kölner Besonderheit, sondern eine bundesweit häufige Erscheinung.