Freiheit statt Kapitalismus

Die Befreiung der wissensökonomischen Produktivkräfte zum politischen Programm machen!

von FRIEDRICH CARL

„Alle paar hundert Jahre ereignet sich in der westlichen Geschichte eine scharfe Transformation. (…) Fünfzig Jahre später hat die Welt sich komplett verändert. Und die Menschen, die dann geboren werden, können sich die Welt ihrer Großeltern, in die ihre eigenen Eltern hineingeboren wurden, gar nicht mehr vorstellen.“ (Drucker, 1994: 1). Eine solche Epoche der Transformation nahm in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ihren Anfang. In deren Zentrum steht eine historisch beispielloser Vergesellschaftungsschub der menschlichen Individualität und damit verbunden, eine revolutionäre Erweiterung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, die am besten als Übergang zur Wissensarbeit und Wissensökonomie bezeichnet wird.

Wissensarbeit wird zur vorherrschenden Form der Arbeit

Wissensarbeit bezeichnet alle die nützlichen menschlichen Tätigkeiten, die durch die Kreation, Verteilung, Akquisition, Aneignung und Nutzung von Wissen und Können bestimmt sind. Wissensarbeit von individuellen Spezialisten hat es in allen Zivilisationen gegeben und im Zeitalter der industriellen Massenproduktion wurde sie zum Massenphänomen. Drei sich ergänzende Trends sind zu  verzeichnen:

  1. Schnelles Wachstum der von Wissensarbeit geprägten Bereiche Bildung und Erziehung, Gesundheit, Forschung und Entwicklung, IT, Medien und Unterhaltung, Werbung und Marketing, Sport und Kultur.
  2. Zunehmende Durchdringung industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit und der Dienstleistungbranchen mit wissensarbeitlichen Anteilen, was sich u.a. in einem wachsenden Wertanteil der Wissensproduktion an den industriellen Erzeugnissen ausdrückt.  
  3. Fortschreitende Automatisierung repetitiver, wissensarmer Tätigkeiten.

„In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert“ (Marx, 1974: 27). Heute ist es die Wissensarbeit, die in qualitativ neuer, vergesellschafteter Form in tendenziell alle Arbeitsprozesse vordringt und zur allgemein vorherrschenden Form der Arbeit wird.

Die entscheidende neue Produktivkraft ist das sprunghaft gewachsene gesellschaftliche Arbeitsvermögen

Die unmittelbarste Produktivkraft der Wissensökonomie ist das lebendige Wissen und Können der Menschen. „Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen.“ (Marx, 1974: 596). In allen Ländern ist das Bildungs- und Ausbildungniveau in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Aber nicht nur individuelles Wissen und Können kennzeichnet die Arbeitenden der Wissensökonomie. Die Fähigkeit, sich selbst und die kooperativen Beziehungen zu anderen Akteuren zu reflektieren und aktiv zu gestalten
(„kooperative Individualität“, Müller 2010) wird zu einer Schlüsselkompetenz in der hoch vergesellschafteten Wissensarbeit.

Eine in Qualität und Quantität neue Produktivkraft der Wissensökonomie ist das massenhaft verfügbare externalisierte Wissen. Ob als hochwertiges wissenschaftlich-technologisches Wissen oder als im Überfluss im Internet verfügbares „Gebrauchs­wissen“ bis hin zum Trash – auf allen qualitativen Ebenen entfaltet sich eine Kultur der Fülle, in der die Breite des Angebots das größte Problem der Nutzer ist.

Auch die organisationalen Fähigkeiten der Menschheit vollziehen in unserer Epoche einen historischen Quantensprung. Grundsätzlich kann jeder Mensch mit jedem beliebigen und beliebig vielen anderen Menschen kommunizieren und kooperieren (Massen-kooperation). „Der Zweck von Organisationen ist es, Wissen produktiv zu machen“ (Drucker 1993:49). Das kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen und es ergeben sich für Arbeitsprozesse und Organisationsstrukturen große Gestaltungsfreiheiten.

Dieser Produktivkraftschub kommt eigentlich gerade recht, denn die Menschheit steht vor existentiellen Herausforderungen. Die konsequente Nutzung der neuen Produktivkräfte böte gute Chancen, die erforderliche Neuausrichtung des Verhältnisses von Mensch und Natur zu meistern und das Schlimmste noch einmal zu verhüten. Daran allerdings haben die herrschenden kapitalistischen Eliten nicht das geringste Interesse.

Kapitalistische Produktionsverhältnisse blockieren wissensökonomische Produktivkräfte

Wissensökonomie folgt komplett anderen Gesetzen als herkömmliche Industrieproduktion. Im Unterschied zu Industrieprodukten wächst Wissen, wenn man es teilt. In der taylorisierten Industrieproduktion ist aktives Mitdenken der Arbeitenden verboten. Bei Wissensarbeit ist es unerlässlich. Herkömmliche Industriearbeit wird „von oben“ geplant und gesteuert. Wissensarbeit kennt viele kleine Besonderheiten, Abhängigkeiten und spezifische Praktiken, die nur den Arbeitenden selber bekannt sind („implizites Wissen“ / M.Polanyi), so dass eine hierarchisch-bürokratische Steuerung von oben unmöglich ist.

Die herrschenden monopolkapitalistischen Eliten sind bestrebt, die produktiven Potentiale der Wissensarbeit zu ihrem exklusiven Vorteil zu nutzen. Sie verlangen nach immer qualifizierteren Arbeitskräften, wollen aber nicht für deren Ausbildung und Reproduktion aufkommen. Und wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, dann eben bitte nur „Elite“-Bildung statt freien Zugang zur Bildung für alle. Sie forschen und entwickeln und monopolisieren die Resultate als „geistige Eigentumsrechte“, um so Wissen künstlich zu verknappen und zur Ware zu machen. In den Unternehmen blockieren sie mit kurzfristigen Kostensenkungs- und Profitmaximierungstaktiken die nachhaltige Entwicklung wissensökonomischer Potentiale. Staatlich organisierte Investitionen in das gesellschaftliche Arbeitsvermögen und die wissensökonomisch erweiterten Reproduktionsbedingungen, vor allem das Wachstum der human-sozialen Dienstleistungsbereiche in Bildung und Gesundheit, stellt sich aus ihrer elitär-eigennützigen Sicht nur dar als ein Kostengebirge, dem sie mit neoliberalen Kostensenkungs-, Stellenabbau-  und Privatisierungsstrategien begegnen. In der kapitalistisch verkrüppelten Version der Wissensökonomie findet der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung – nach Marx und Engels der Grundwiderspruch des Kapitalismus – eine neuerliche Zuspitzung.

Freiheit statt Kapitalismus

„Freiheit statt Kapitalismus“, der Titel des neuen Buchs von Sarrah Wagenknecht, ist deshalb die richtige Parole. Der dort geforderte „kreative Sozialismus“ sollte m.E. folgende Elemente enthalten:

  • Gesicherte Daseinsvorsorge für alle, abgesichert durch Unternehmen in öffentlichem Eigentum
  • Uneingeschränkte Freiheit des Zugangs zum Wissens und Abschaffung „geistigen Eigentums“
  • Uneingeschränkter Wettbewerb in den verbleibenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftssegmenten
  • Mitbestimmung, Miteigentum und Mitgestaltung der Arbeitsprozesse durch die Arbeitenden.

Dazu hat Wagenknecht eine gute Vorlage geliefert. Massiven Lernbedarf haben sie und ihre Partei aber beim zweiten Punkt, vor allem wenn es um das
„geistige Eigentum“ und die Informationsfreiheit geht (Meretz). Was bedeutet die Verfügung über eine Pillenfabrik im Vergleich zum „geistigen Eigentum“ an den dort produzierten Produkten? Die Produktion materieller Güter wie etwa von Computern wird heute in vernetzten Lieferketten organisiert. Die internen Machtverhältnisse dieser Produktionsweise werden heute weniger durch das Eigentum an den materiellen Produktionsmitteln als durch die Verfügung über die zugehörigen Patente und Softwareprogramme bestimmt. Eine Linke, die, geprägt von der wirtschaftlichen Machtarithmetik des Industriezeitalters, die wachsende Macht der Wissensmonopole verschläft, ist für den Kampf um den
„kreativen Sozialismus“ noch nicht gut vorbereitet. Das kann geändert werden und Wagenknechts gelungene Slogans sollten ein guter Auftakt dafür sein!

Literatur

Drucker, Peter F. (1993): Postcapitalist Society, New York

Gorz , André (2004): Wissen, Wert und Kapital, Zürich

Haug, Wolfgang Fritz (2003): High-Tech-Kapitalismus, Hamburg

Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin

Meretz, Stefan: Kritik am Beschluss der Bundestagsfraktion DIE LINKE zum Urheberrecht, http://insidex.soup.io/tag/die linke

Müller, Nadine (2010): Reglementierte Kreativität, Arbeitsteilung und Eigentum im computerisierten Kapitalismus, Berlin

Polanyi, Michael (1964): Personal Knowledge, New York

Vester, Michael / u.a. (2007): Die neuen Arbeitnehmer, Hamburg

Wagenknecht, Sarah (2011): Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt a.M.