Jürgen Seitz
Erster Eindruck: die Pressemeldungen
75 Jahre Kölner Jusos – eine lange Tradition, könnte man meinen. Mit Unterbrechungen, freilich. Na klar – die Nazi-Zeit …? Erste Überraschung: Die Kölner Jusos haben sich schon Mitte Februar 1931 selbst aufgelöst und nicht etwa im Jahr der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers, 1933. Und dann das Jahr 1921, die Gründung der Kölner Jusos am 25. November, abends (es war ein Freitag). Fällt den LeserInnen zu diesem Jahr etwas ein? Warum bilden gerade jetzt junge Sozialdemokraten und -innen eine eigene Gruppe innerhalb der – und hier halte ich kurz inne – SPD? (Damals war die SPD doch gespalten, und es gab auch die Unabhängige Sozialdemokratische Partei.)
Und überhaupt: Sagt uns diese Tradition heute denn noch was? Wir wollen mal sehen! Das spezifisch Kölnische muß leider allzu oft im Schatten der allgemeinen deutschen Entwicklung zurückbleiben, weil die historischen Quellen zur lokalen Entwicklung nicht genug hergeben. Irgendwer hat versäumt, rechtzeitig die Zeitzeugen zu befragen.
Die Entdeckung der Jugend. 1921
So kurz der Aufruf in der Rheinischen Zeitung (die SPD gab damals noch richtige Tageszeitungen heraus) vom 22. November 1921 auch ist, er enthält wesentliche Anhaltspunkte. Zum Beispiel den, daß die KölnerInnen damals der „schon starken Bewegung“ ziemlich hinterherhinkten. Die ersten Jungsozialisten-Gruppen hatten sich schon im Jahre 1919, also kurz nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches, nach der Novemberrevolution 1918 und dem Ende des Ersten Weltkrieges spontan gebildet. Hamburg, Bochum, Berlin waren wohl die ersten, im Sommer 1921 hatten schon 80 Städte Jusos, nur Köln noch nicht.
Köln war britisch besetzt. Der Friedensvertrag von Versailles sah die Besetzung des Rheinlandes durch die Siegermächte vor, die dort bis zum 31. Dezember 1925 auch blieben, aber die Zivilverwaltung in deutscher Hand beließen. Eine gewisse öffentliche politische Zurückhaltung ergab sich ganz allgemein aus dieser Situation.
Und Köln war schwarz. Hochburg des Katholizismus und seiner politischen Vertretung, des Zentrums. Das Zentrum verfügte während der gesamten Weimarer Republik in Köln über eine zuverlässige Wählerbasis, stellte die stärkste Stadtratsfraktion und den Oberbürgermeister, Konrad Adenauer, den übrigens seit 1917.
Die linke Wählerbasis, überwiegend in der ArbeiterInnenschaft zu finden, war in jenen Jahren zu Beginn der Republik mit ca. 45 % zwar nicht zu verachten, aber doch nicht so breit wie in anderen Großstädten. Freilich verteilten sich diese Prozente auf einander durchaus feindlich gesonnene Arbeiterparteien.
Wie im Reich, so hatte sich auch in Köln 1917 eine Gruppe von KriegsgegnerInnen aus der SPD gelöst und die Ortsgruppe der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) gegründet. Gegenüber dieser neuen Partei wurde zwecks Unterscheidung die alte häufig MSPD, Mehrheits-SPD, genannt – freilich nannte sie sich selber weiterhin SPD. Das weitere Schicksal der USPD sei hier in aller Kürze dargestellt, auch wenn diese Partei mit den Jusos nichts zu tun hatte. Die Jusos sind nämlich aus der MSPD heraus entstanden.
Von den kaiserlichen Militärbehörden verfolgt, blieb die USPD bis zur Novemberrevolution 1918 recht unbedeutend, spielte in den Revolutionstagen selber eine wichtige, aber kurze Rolle im „Rat der Volksbeauftragten“ und erhielt bei den Wahlen in den Jahren 1919 und 1920 eine steil ansteigende Stimmenzahl auf Kosten der SPD. Im Juli 1920 spaltete sie sich mitten durch, der eine Teil vereinigte sich mit der bis dahin bedeutungslosen KPD. In Köln war dies der weitaus größere Teil, so daß die Rest-USPD hier an unserem Stichtag, dem 25. November 1921, kaum noch ins Gewicht fiel. Im Oktober 1922 vereinigte sich diese USPD, die zwischen KPD und MSPD keinen Platz mehr fand, mit letzterer, um von nun an eine durchaus schlagkräftige innerparteiliche Opposition zu bilden. Nur eine winzige Gruppe führte die Partei fort, erwähnenswert, weil sie in Köln ihren regionalen Schwerpunkt hatte und mit Henriette Ackermann immerhin bis 1928 eine Stadträtin stellte.
Zurück zu den Jusos. Der MSPD also „muß sich in unsere Bewegung einordnen“, wie es im Aufruf heißt. Dies war keineswegs selbstverständlich, vielmehr war das Verhältnis von Jusos und SPD – schon damals – heftig umstritten. Die eigentliche Parteijugend war die Arbeiter-Jugend (ab der Vereinigung mit der USPD 1922 Sozialistische Arbeiterjugend, SAJ), die aus 14- bis 17jährigen bestand, plus der zur sozialistischen Erziehung der Jugend notwendigen Älteren. Mit 18 hörte die Jugend auf, und die Partei erwartete den Nachwuchs. Spannende Ortsvereinssitzungen! Kassenberichte! Weisheiten von vorgestern! Und das schlimmste: sozialdemokratische Geselligkeit mit Bier, Skat und Zigarrenqualm.
Das war nichts für unsere Jusos von damals. Sie wollten keine „blinde Hinnahme überkommener Anschauungen“, sondern „durch den Austausch unserer Gedanken neues Wissen, neue Erkenntnisse bringen.“ Sie wollten unter sich sein, als 18- bis 25jährige, und nicht nur zum Gedankenaustausch, sondern den Begriff des Sozialismus „mit neuem Leben erfüllen“. Denn eins war klar: Das war bitter nötig. Der parteioffizielle Vulgärmarxismus der Vorkriegszeit hatte gründlich abgewirtschaftet. Der als naturnotwendig kommend angekündigte Sozialismus war nicht in Sicht, trotz der ungeheuren Erschütterungen der Gesellschaft durch Krieg und Revolution. Für die bürgerliche Seite war dagegen der Untergang des Kaiserreiches ein Schock. Eine Sinnkrise, würden wir heute sagen, hatte die ganze Gesellschaft erfaßt, nicht nur, wie heute, die Linke. Der führende Bochumer Juso August Rathmann schrieb es Januar 1922 in den Jungsozialistischen Blättern (folgend JB genannt) poetischer:
„Unsere Aufgabe ist es, neuen Inhalt zu geben. Die erschreckende Leere um uns schreit danach und erwartet voll Sehnen füllende Hände.“
Und die alten Wege schienen falsch, auch wenn von dieser Juso-Generation durchaus die Erfolge der Älteren, die sie dem Kaiserreich abgetrotzt hatten, anerkannt wurden. Im Leitartikel desselben Heftes, übrigens der allerersten Ausgabe des reichsweiten Organs JB, heißt es:
„Nicht aus den Zuständen und ihrer Wandlung allein kann der Sozialismus gefolgert werden. Auch Karl Marx setzt vor diese Wandlung der Sachen eine menschliche Wandlung, die damit Hand in Hand gehen muß. Bisher ist dieser Zusammenhang im Sozialismus nicht deutlich genug betont und das Gewicht einseitig auf die Wandlung der Umstände gelegt worden, woraus dann der unhaltbare Schluß folgt: Sozialismus ist nur Wandlung in der Produktionsweise, ermöglicht durch die ‚Vergesellschaftung der Produktionsmittel‘. Punktum! Schluß! War dadurch nicht der Mensch ausgeschaltet und eine Ohnmacht einbekannt, die auf die Dauer den Sozialismus zur Erstarrung bringen mußte?“ (Das ist nicht 1989 geschrieben.)
Und noch eins drauf von R. Heinz aus Bonn im selben Heft:
„Was aber wird mit dem Sozialismus und ganz besonders mit unserer Partei, wenn wir nur eine auf materielle Vorteile gerichtete Masse haben und keine ideellen, selbstlosen Sozialisten, die nicht nur des materiellen Vorteils wegen, sondern für die große sozialistische Menschheitsidee der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit kämpfen?“
Ganz klar, solche selbstlosen Sozialisten wollten die Jusos sein. Sie wollten sich abgrenzen von den um kleine materielle Vorteile ringenden Gewerkschaftsfunktionären, die zweifellos sehr wichtig sind, aber niemanden begeistern können. Sie wollten sich abgrenzen von denjenigen ArbeiterInnen, die mit Sozialismus vor allem ein neues Auto, pardon, eine neue Taschenuhr verbanden. Sie waren derjenige Teil der jungen Arbeiterschaft – und Facharbeiter waren die meisten -, der sensibel genug war, um seelisch unter den Zuständen der großstädtischen Zivilisation zu leiden und gebildet genug, um dieses Leiden in Worte zu fassen. Eine Gemeinschaft guter Menschen, in der damaligen Aufbruchsstimmung schien das möglich, im Sozialismus hoffentlich, in der SPD leider noch nicht, auf jeden Fall aber bei den Jusos!
„Wir müssen den Willen haben, als Sozialdemokraten in unserer Gemeinschaft das Prinzip der Menschenverbrüderung zu erleben. Diese Form des gemeinschaftlichen Denkens und Fühlens wird heute von den Jungsozialisten als gemeinschaftlicher Lebensprozeß gepflegt.“
Karl Zeuch aus Dessau schrieb dies wenig später, die JB des Jahres 1922 sind voll von solchen Begeisterungen. Allerdings gab es auch schon Gegenstimmen, die forderten, wieder auf den Boden zurück zu kommen.
Der Kölner Aufruf scheint mit seiner Mahnung, sich „nicht in Eigenbrödelei“ zu verzetteln, den Abkapselungstendenzen bei den Jusos entgegenwirken zu wollen. Denn die frühen Juso-Gruppen mit ihrem hohen moralischen Anspruch und dem Bedürfnis, diesen sofort und jetzt zu leben, wollten sich von der Partei durchaus nicht reinreden lassen. Ein antiautoritärer Zug haftete ihnen an. Sie hatten sich ja zusammengeschlossen, ohne die Partei zu fragen. Ihre Ausdrucksformen waren die der sogenannten Jugendbewegung, die als kulturelle Erscheinung der Vorkriegszeit nun verspätet die Arbeiterbewegung erreicht hatte. Lange Haare, unordentliche Klamotten, freizügiges Benehmen! Das kennen wir doch, oder? Unordentliche Klamotten, das hieß damals kurze Hosen und deutsche Ethno-Jacke (bei den Burschen) statt Schlips und Anzug, bzw. Sackkleid und Zöpfe (bei den Mädels) statt Korsett und Frisur. Na, und freizügiges Benehmen war zum Beispiel, geschlechtgemischt wandern zu gehen und in Heuschobern zu übernachten. So waren die Zeiten. Merkwürdig kommt uns freilich heute vor, das für sozialistisch zu halten. Dabei ist im Heu nix passiert! Wie gesagt, der Moralkodex der Jusos war sehr ernst. Hier gehört auch obige Bemerkung mit dem Zigarrenqualm und Bier hin. Drogen? – Nein, danke! Das konnte Gruppenausschluß bedeuten. Moralisch anrüchig waren auch alle Spiele und Sportarten, die mit gewinnen zu tun haben. Skat, Fußball. (Das soll ja heute anders sein …) Und dann erst die Schundliteratur! Ich sage nur Karl May! Igitt!
Kurz: Die kapitalistische Massenkultur war ihnen zuwider. Dagegen gesetzt wurde alles, was als naturverbunden und rein galt, so das Wandern, Singen, Lagerfeuer, FKK, Volkstanzen (nur kein Tango!), Theaterspielen, später dann Sowjetfilme gucken, Gedichte lesen, vegetarisch essen, usw.
Kein Wunder, daß diese Jusos oft als elitär verachtet wurden, und daß ihr Einfluß auf die Masse der Arbeiterjugendlichen gering blieb. Das innere Gruppenerlebnis aber, der Zusammenhalt, muß enorm gewesen sein, und tatsächlich eine Kraft, aus der viele ihr Leben lang schöpften.
Der Arbeiterjugendtag im August 1920 in Weimar wurde Startpunkt einer überregionalen Jungsozialisten-Bewegung, wie es damals hieß, weil die Idee hier bei den über 18jährigen aus den Arbeiterjugendvereinen auf fruchtbaren Boden fiel. Schon im Oktober beschloß der SPD-Parteitag in Kassel den Antrag Nr. 321:
„Der Parteitag begrüßt mit lebhafter Freude die geistige Regsamkeit der Jungsozialisten und ihr Streben nach Erringung innerer Selbständigkeit. Der Parteitag verpflichtet daher die Parteiorganisationen, die Bestrebungen der Jungsozialisten tatkräftig zu unterstützen. Insbesondere sind dort, wo sich genügend jüngere Parteimitglieder finden, im Rahmen der Parteiorganisation, deren Beschlüssen sie unterstehen, jungsozialistische Gruppen zu errichten. … Die Leitung und Verwaltung der Gruppen liegt selbständig in den Händen der jungen Genossen mit der Maßgabe, daß hierzu ein Vertreter der Parteiorganisation und des Bildungsausschusses hinzugezogen wird.“
In diesem Zusammenhang ist der Kölner Aufruf zu sehen. In Köln hatte sich keine spontane Juso-Gruppe gebildet. Erst im November 1921, nach der ersten reichsweiten Tagung der Jungsozialisten in Bielefeld am 29. Juli, war die Zeit reif, auch in Köln eine Gruppe ins Leben zu rufen (und es gab bis 1931 nur eine für ganz Köln). Über diese Versammlung und die Juso-Gruppe in Köln erfahren wir erst wieder etwas Anfang 1923, als sich Hedwig Rowe in den JB zu Wort meldete mit einer Art Jahresbericht: „Köln – Unsere Arbeit.“
Wir erfahren, daß damals im November 1921 über 100 Personen zu einer Versammlung gekommen sind und daß Benno Poeten einstimmig zum Vorsitzenden gewählt wurde. „Daß sich der Kreis gegenüber der Besucherzahl der ersten Werbeversammlung verringerte, ist nicht verwunderlich und kein Schaden, fordern wir doch von unseren Freunden ernste Mitarbeit und geistiges Ringen um die Probleme der Zeit“, schrieb sie, und „Wir wollen keine Massenorganisation mit ihren notwendigen äußeren Bindungen, sondern einen vielleicht nur kleinen Kreis innerlich Verbundener.“
Aus was bestand aber nun die Juso-Arbeit? Rowe dazu: „Ausspracheabende und Wanderungen“, und wir erfahren die komplette Liste der Bildungsthemen des ersten Juso-Jahres in Köln:
Mehrere Abende zu „Sozialismus und Individualismus, Frauenfrage, Pazifismus“, je ein Abend zu „Jungsozialismus, Rationale und irrationale Jugendbewegung, Demokratie und Führertum, Der Sozialismus als sittliche Idee, Die ökonomische Geschichtsauffassung, Der philosophische Materialismus, Bildungsziele der bürgerlichen und proletarischen Jugend, Jugendwohlfahrt, Rationalisierung des Haushalts, usw.“
Fürwahr ein geistiges Ringen dieses Bildungsclubs! Das war noch nicht alles, besuchte man doch zusätzlich einmal wöchentlich gemeinsam die „Volkshochschul-Jugendgemeinschaft“. Dieser Bildungshunger war absolut typisch für die Jusos der Weimarer Republik und blieb es bis zuletzt. Auffällig an dieser Liste ist das Fehlen tagespolitischer Diskussionen. Es ging eher um Identitätsfindung. Mit Rowe haben wir eine der ersten Frauenrechtlerinnen bei den Jusos vor uns, so veröffentlichte sie z.B. im April 1923 in den JB den Artikel „Frauenbewegung und Jungsozialismus“, und sie dürfte auch für die entsprechenden Themen der Bildungsabende gesorgt haben – allerdings mit fraglichem Erfolg, denn gerade der Kölner Juso Werner Goldberg war es, der noch im Juli 1927 in JB mit dem übelsten Chauvinismus glänzte:
„… an der ästhetischen Veredelung unseres Liedes, Tanzes, unserer Wanderung und Kleidung mitzuwirken, das ist wahrlich eine Aufgabe für unsere Mädels“.
Über das Verhältnis zur Kölner SPD bemerkte sie zu guter Letzt auch noch etwas: „Außenstehende werden sich vielleicht wundern, daß die praktische Arbeit bei uns so in den Hintergrund tritt. Das hat darin seinen Grund, daß unser Kreis durchweg aus älteren Genossen und Genossinnen besteht, die alle entweder in der SPD, in den Gewerkschaften, in der Arbeiter-Jugend, in der Bildungsarbeit, in der Arbeiter-Wohlfahrt oder pazifistischen Bewegung tätig sind.“
Die ersten Kölner Jusos waren also, auch damit hängt ihre späte Gründung zusammen, in die SPD-Arbeit eingebundene Menschen, die sich selbst als schon relativ alt ansahen, die zwar auch unter sich sein wollten, bei denen aber der antiautoritäre Zug nicht so entwickelt war wie bei den Juso-Gruppen der ersten Gründungswelle.
Hofgeismar! Hannover! 1923-26
Diese Schlagworte elektrisieren Jusos noch heute. Das Spannendste an der Juso-Arbeit ist doch immer das Fraktionieren. Die schon zeitgemäß geprägten Kampfbegriffe brachten immerhin noch in den 70er Jahren eine Juso-Fraktion dazu, sich nach historischem Mythos Hannoveraner Kreis zu nennen, und schließlich fand sich nach der DDR-Einverleibung 1990 sogar eine kleine Juso-Gruppe, die Hofgeismarer sein wollten.
Inwiefern solche Traditionen zu Recht bestehen, soll jede/r selbst entscheiden. Am Anfang des Hofgeismarer-Kreises steht ein Ereignis, das zumindest Teile der Jusos aus ihrer tagespolitischen Abstinenz herausriß: Am 11. Januar 1923 marschierten fünf französische Divisionen ins Ruhrgebiet ein, um rückständige Kohlelieferungen aus dem Versailler Vertrag einzutreiben. Auch wenn die Kohleforderungen nicht nur juristisch zu Recht bestanden (die deutsche Armee hatte auf ihrem Rückzug 1918 die nordfranzösischen Kohlezechen geflutet), so war die Ruhrbesetzung doch ein eindeutiger Akt des Imperialismus. Die innenpolitische Folge im damaligen Nachkriegsdeutschland, das die Niederlage nicht akzeptieren wollte, war wütende Empörung und nationalistisches Aufbrausen, wie man es seit 1914 nicht mehr gekannt hatte. Insbesondere die Juso-Gruppen des Ruhrgebiets blieben davon nicht unbeeindruckt, was allerdings ebenso für die dortige SPD zutraf. Die Jusos, die ja stets die Pflege deutscher Volkstraditionen gegen die moderne Massenkultur gesetzt hatten, die sich jugendbewegt nach Gemeinschaft sehnten, die durchaus ähnliche Ausdrucksformen bei den vielfältigen jugendbewegten bürgerlichen Jugendvereinen vor sich sahen, diese Jusos konnten der nun einsetzenden Propaganda von der Volksgemeinschaft jedenfalls einiges abgewinnen. In dem von den Bochumer Jusos verschickten Einladungsschreiben zur Hofgeismarer Tagung wurde denn auch die Erarbeitung eines positiven Verhältnisses zu Volk und Staat angekündigt. Der Tagung selbst gingen einige regionale Treffen der Jusos aus dem Ruhrgebiet zu ähnlichen Themen voraus.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sozialdemokratisches Hierarchiedenken erst teilweise durchgesetzt. Seit der ersten parteioffiziellen Juso-Tagung in Bielefeld 1921 gab es zwar einen sechsköpfigen Reichsausschuß und einen Redakteur für die JB, die örtlichen Gruppen richteten sich aber nur nach ihrer eigenen Nase und beriefen Tagungen ein, wenn sie dazu Lust hatten.
Das alte Schlößchen im nordhessischen Hofgeismar war nunmehr als Winterschule eine beliebte Stätte für Jugendtagungen. Die Tagung, um die es hier geht, das war keine dröge Tagung unserer Zeiten! „Am Abend wandern die Versammelten auf eine Höhe, untergehende Sonne im Blick. Kraftvolle Lieder fliegen auf“ – dann, am anderen Morgen: „Ah, die Gymnastik fängt an. Was man da alles lernt!“ Nach dem Frühstück begann die Tagung mit einem besinnlichen Gedicht, dann Vortrag und Diskussion:
„Brögers Ausführungen folgt eine seelisch bis ins Innerste aufwühlende Aussprache. Leidenschaftliches Erlebnis der Nation hier, dort zur Menschheit als für sie Primärem sich Bekennende, wieder andere unerschütterlich auf dem Boden des zu führenden Klassenkampf stehend“, abends Lagerfeuer, und auf dem Weg zum Feuerplatz „fechten die bei der Aussprache entstandenen Lager ihre Gegensätze singend aus.“
Diese Sätze stammen aus dem Bericht des zu den Einladern zählenden Bochumers Franz Osterroth für die JB Juni 1923. Es wird klar: dies war eigentlich kein Fraktionstreffen nationalistischer Jusos. Das ganze Spektrum der Juso-Bekenntnisse schien hier Ostern 1923 vertreten zu sein unter den mehr als 100 Teilnehmenden, von denen freilich über die Hälfte aus dem nahen Ruhrgebiet kam. Auch war die Auswahl der ReferentInnen nicht völlig einseitig, wenngleich national dominiert. Die Initiatoren begannen jedoch sogleich nach der Tagung, an dem Mythos zu basteln und ihre Definitionsmacht auszuspielen: „Die Osterwoche in Hofgeismar ist entscheidend für den künftigen Weg der jungsozialistischen Bewegung“, schrieb der schon erwähnte Rathmann in der gleichen Ausgabe der JB, und irgendwie sollte er Recht behalten.
Im Hofgeismarer-Kreis, der sich nun bildete und durch weitere Tagungen, rege Briefwechsel und ab Herbst 1924 durch das Blatt Politischer Rundbrief zusammengehalten wurde, fanden sich nun alle diejenigen Jusos, die den deutschen Staat bejahten. Fragte sich nur, welchen. Bei Rathmann klang das so: „Der Sozialismus bedarf des Staates, um wirklich zu werden. Der Staat muß, um seiner sozialistischen Aufgabe willen, vom Volk getragen und gestaltet werden. … Im heute so zermürbten und zerrissenen Volk muß aber besonders die sozialistische Jugend einen festen, zielbewußten und arbeitsfreudigen Block bilden, der den Staat schützt und zur lebendigen Fortentwicklung treibt.“
Das klingt, fünf Monate vor dem (gescheiterten) Hitlerputsch in München, nach Verteidigung der Republik. Es klingt jedenfalls auch nach Unterstützung der damaligen SPD-Koalitionspolitik und darf also als klassisch reformistische Position gekennzeichnet werden. Es gab aber auch andere Töne. Der Dortmunder Sprecher Benedikt Obermayr bekannte sich im September 1924 zur „preußisch-deutschen Staatsgesinnung“, und Franz Osterroth beklagte im folgenden Dezember die „Pariarolle unserer Nation auf dem Felde der Weltpolitik“. Das Spektrum der Hofgeismarer war durchaus breit, mit fließenden Grenzen zum rechtskonservativen Geist. Die inneren Differenzen sollten aber erst beim Auseinanderbrechen des Kreises Anfang 1926 deutlich sichtbar werden.
Und Köln? Ostern 1923 scheint kein Kölner dabeigewesen zu sein, so jedenfalls die Erinnerungen von Osterroth, allerdings erwähnt er Sympathisanten in Köln, mit denen er später in Kontakt stand. Aufschlußreicher sind hier die JB, denn Anfang 1924 erschien wieder ein Jahresbericht der Kölner Jusos, diesmal von Werner Goldberg verfaßt: „Unsere Arbeit hier in Köln war im abgelaufenen Jahr weniger politischer als kultureller Natur“, beginnt er und ergänzt:
„Praktische Arbeit haben wir in ziemlich großem Umfang auf dem Gebiet der kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen geleistet. … Großen Wert legen wir hierbei auf Lesungen von Dramen der klassischen Dichtung, mit der wir die Jugend vertraut machen wollen. Wir bildeten eine Spielgemeinschaft und führten u.a. Brögers ‚Kreuzabnahme‘ und Tollers ‚Wandlung‘ auf. … Wir erblicken in der selbständigen Verwirklichung proletarischer Kulturideen einen der wertvollsten Wege zur inneren Neuwerdung des Menschen.“
Soviel zum tagespolitischen Engagement. Aus diesen Aktivitäten sprach noch ganz der kulturell orientierte, auf Erziehung gerichtete Geist der frühen Jusos. Immerhin dürfte diese Arbeit großen Spaß gemacht haben. Die Liste der Bildungsthemen zeigt allerdings, daß die Diskussionen auf Reichsebene nicht spurlos an den KölnerInnen vorbeigegangen waren:
„Die Arbeit der Kölner Jungsozialisten im vergangenen Jahr stand im Zeichen des Kampfes um die Weltanschauung. Sie zu formen und zu vertiefen, wurden im Laufe des Jahres eine Reihe wesentlicher Themen in fleißig besuchten Ausspracheabenden behandelt. Referiert wurde über: Möglichkeiten einer Volksgemeinschaft – Zeitströmungen – Marx und wir – Hegel und Marx – Bürgerliche Jugend – Meißnertagung – Frauenfragen – Hans Blüher – Menschenkunde – Kunst und Proletarier – Gottesproblem – Demokratie – Führertum – Pazifismus – Staat.“
In Köln als ebenfalls besetzter Stadt lag es eigentlich nahe, mit den empörten Jusos des Ruhrgebietes zu fühlen, aber „Andererseits wurde und wird unser nationales Empfinden in keiner Weise durch die englischen Besatzungstruppen herausgefordert … Von einer Bedrüc kung der Menschen durch sie kann in keiner Weise die Rede sein, und man soll ja nicht die Kölner Besetzungszeit eine Zeit der Entrechtung und Erniedrigung des Deutschtums am Rhein nennen. Wer das tut, der lügt.“ Die Tendenz in Köln ging eher in die andere Richtung:
„Während das politische Moment stark zurücktrat, sympathisierte man bei der wachsenden wirtschaftlichen Zerrüttung immer mehr mit dem rein wirtschaftlich betonten Klassenkampf … Auch die Jungsozialisten hatten im ersten Aufschwung der wiedererweckten Idee des großen proletarischen Kampfes nicht umhin gekonnt, sich der Arbeiterjugend an die Seite zu stellen. Unter anderem ging von ihnen eine offizielle Einladung an die Kommunisten aus, zu einer Zusammenkunft kam es jedoch nicht. Wer nicht erschien, waren die Eingeladenen. Später unterzog man die Frage einer tiefgreifenden Revision und kam zu der Einsicht, daß man positive Arbeit für unsere Jugend im kommunistischen Fahrwasser nicht leisten könne“.
Dies ist aufschlußreich. Die Jusos waren also parteiunabhängig genug, Einladungen an die kommunistische Jugend aussprechen zu können. Solche Kontakte waren gar nicht so selten in einem Zeitgeist, der die Gemeinsamkeit aller Jugend stark betonte und genau deshalb waren Kontakte zum Kommunistischen Jugendverband (KJV) aus Juso-Sicht auch völlig unfruchtbar, weil nämlich der KJV seine Lenkung durch die Alten nicht verheimlichen konnte und wollte.
Die KölnerInnen waren vom nationalistischen Fieber nicht angesteckt, integrierten in ihrer Gruppe aber offensichtlich unterschiedliche Meinungen. Vielleicht ein Zeichen für kölsche Toleranz? Goldberg jedenfalls, und damit soll’s genug sein mit seinem Bericht, hat auch dazu eine Meinung: „Die ganze Leichtigkeit, mit der man im Rheinland politische Dinge behandelt, findet ihren satirischen Ausdruck in den Jammergestalten der historischen Kölner Funkengarde“ – jede Wette: das war ein Imi!
Nun aber zum Hannoversch-Mündener Kreis. So müßte er eigentlich heißen, wenn es nach seinem Tagungsort ginge. Die Initiatoren saßen freilich in Hannover, so daß der Name Hannoveraner doch irgendwie seine Berechtigung hat.
Die Hannoveraner waren eher eine Gegenbewegung im Sinne von Anti-Hofgeismar-Kreis als etwas, das mit der fraktionsmäßigen gleichnamigen Neuauflage unserer Tage vergleichbar wäre. „Der Zweck des Treffens soll sein, Stellung zu nehmen gegen die Richtung in unserer Bewegung, die ihrer ideologischen Einstellung nach den Boden des marxistischen Klassenkampfes verlassen hat und sich heute, in einer Zeit der schärfsten Klassengegensätze, zur Volksgemeinschaft und zu einem Deutschtum bekennt …“, so heißt es unmißverständlich in der Einladung für die Pfingsttagung in Hannoversch-Münden 1924. Weitere Tagungen fanden nie statt, der Versuch einer eigenen Publikation wurde schnell wieder aufgegeben, und eine anerkannte Führung besaß der Kreis nicht. Dies hing zusammen mit dem rapiden Niedergang der Hofgeismarer ab 1925. Es drückte sich hier eine inzwischen weit verbreitete Radikalisierung aus, deren Ursache in der Tat in den wieder zu Tage getretenen schärfsten Klassengegensätzen zu finden war. Das Jahr 1923 hatte nämlich neben der Ruhrbesetzung noch zwei weitere Ereignisse gebracht, die ein Juso-Herz zur Weißglut treiben konnten.
Nummer eins: 1923 war das Jahr der Inflation; einer Inflation, die noch nachfolgende Generationen mit Schrecken erfüllte, wenn sie nur daran dachten. Die Geschichten vom Brötchen für 10 Milliarden Mark dürften bekannt sein. Das sind nur Zahlen. Für ArbeiterInnen, deren Lebensstandard im wesentlichen durch den Tariflohn bestimmt wurde, konnte es Hunger bedeuten, wenn die Tarife nicht täglich angepaßt wurden, und wir können ahnen, wie problematisch das war. Zudem verloren die Bauern die Lust, Lebensmittel gegen wertlose Geldscheine zu tauschen. Hungerunruhen waren die Folge. Aber auch die bürgerlichen Mittelschichten wurden hart getroffen, mußten sie doch zusehen, wie ihr mühsam Erspartes sich in Luft auflöste. Die Folgen für das ohnehin nicht fest verankerte Vertrauen der Massen in den Staat sind gar nicht katastrophal genug einzuschätzen. Natürlich gab man dem Staat der Gegenwart, der Republik, die Schuld, wenn auch zu unrecht. Zwar hatte letztlich die Finanzierung des sogenannten passiven Widerstands gegen die Ruhrbesetzung zur Inflation beigetragen, aber die Wurzeln der ungedeckten Gelddruckerei lagen im Ersten Weltkrieg. Die berühmten Kriegskredite, über die sich die SPD gespalten hatte, konnten ja gar nicht zurückgezahlt werden. Als Verlierer gab es nichts zu plündern.
Und die Laufzeit der Kredite war in der Regel fünf Jahre. Obendrein war Deutschland nach der Niederlage zu hohen Kriegsentschädigungen verdammt worden. Gewinner waren natürlich die Besitzer des Produktivvermögens, und zwar nicht nur finanziell, auch politisch. So gelang ihnen 1923 die Beseitigung des Acht-Stunden-Tages, der für die ArbeiterInnen zählbarsten Errungenschaft der Novemberrevolution. In einer vehementen Propagandaoffensive erklärten sie, daß zur Rettung des „Standort Deutschland“, nein, damals natürlich zur Rettung der deutschen Nation, eine Erhöhung der Produktivität unverzichtbar sei.
Der Generationenwechsel bei Jusos ist ja zuweilen schnell. Wer also 1923 seine politische Erweckung erlebte, den packte angesichts des Klassenkampfes von oben eher die Wut als die Aufbruchstimmung der früheren Jahre.
Eine besondere regionale Wut erlebte Sachsen, das zweite zur nationalen Ernüchterung geeignete Ereignis von 1923. Wie im Januar französische Truppen im Ruhrgebiet eingefallen waren, so fielen deutsche Truppen im Oktober in Sachsen und Thüringen ein, um die dortigen SPD/KPD-Landesregierungen abzusetzen. Dresden war in der Folge ein Zentrum der Linksradikalen bei den Jusos.
Die Radikalisierung der Jusos war allerdings wohl keine Folge der Wiedervereinigung von SPD und USPD (im Oktober 1922). Der Jugendverband der USPD orientierte sich vielmehr zu den Arbeiterjugendvereinen, bildete mit diesen die Sozialistische Arbeiter-Jugend und in ihr den linken Flügel.
Die Radikalisierung war aber alles andere als eine Juso-interne Entwicklung, sondern im Wahlverhalten breiter Bevölkerungskreise zu spüren: Die Kölner SPD erhielt z.B. in den Kommunalwahlen im Mai 1924 die Quittung für die sowohl im Stadtrat, als auch im Reich verfolgte Koalitionspolitik der staatsmännischen Mitverantwortung. Sie verlor 3/4 ihrer Stadträte (11 statt 43) und fiel mit ca. 13 % der Stimmen sogar hinter die KPD (über 18 %) auf Platz drei zurück.
Womit wir wieder in Köln sind und ins Jahr 1925 gucken. Bei den Jusos hatte sich inzwischen allerhand getan. Walter Fließ war nämlich zum führenden Kopf aufgestiegen und wurde auf einer Bezirkskonferenz (Oberrhein) im Februar zum Bezirksvorsitzenden gewählt, was er aber nicht lange blieb. Das Einleitungsreferat hielt die Berlinerin Maria Hodann zum Thema: „Unsere Stellung zum Pazifismus“ in dem sie für die internationale Solidarität eintrat. Auf diese beiden interessanten Personen komme ich noch zurück.
In der Chronologie der Ereignisse folgte nun die dritte Reichskonferenz der Jungsozialisten im April 1925 in Jena, auf der die bis dahin dominierenden Hofgeismarer ihren Einfluß auf der Reichsebene verloren.
Zum Zeitpunkt der Jenaer Konferenz waren 179 Juso-Gruppen mit ca. 4.000 Mitgliedern registriert. 75 Gruppen hatte Delegierte nach Jena geschickt. Die Hannoveraner hatten die Konferenz gut vorbereitet, die Abstimmungsergebnisse deuten allerdings nicht darauf hin, daß sie über eine Mehrheit verfügten. Vielmehr gaben die nicht kreisgebundenen Delegierten den Ausschlag, und es zeigte sich, daß den Hofgeismarern der Wind scharf ins Gesicht blies. Eine Resolution verurteilte „nationale Romantik in jeder Form“. Machtpolitisch wichtiger war die Wahl des linkssozialistischen Pädagogen Engelbert Graf zum neuen Redakteur der JB und die Besetzung der neuen Reichsleitung, wie es ab jetzt hieß, weil dieser nun erstmals auch Leitungsfunktionen zugebilligt werden sollten. Freilich hatten sich die Fraktionen schon im Vorfeld auf ein Modell geeinigt, so daß die Konferenz hier eigentlich nichts mehr zu entscheiden hatte. Es sollten je drei Fraktionsvertreter und ein Vertreter der Mitte die siebenköpfige Reichsleitung bilden, und so wurde es auch gemacht. Die Krux für die Hofgeismarer war auch hier, daß sich der Vertreter der Mitte, der Berliner Franz Lepinski, im folgenden genauso verhielt wie die Mitte auf der Konferenz und die Hofgeismarer auch in der Reichsleitung in die Minderheitsposition gerieten. Ihre Zeiten waren eben vorbei. Eine neue Jugend-Generation war herangewachsen, denen die natur- und volkstumszugewandte Romantik nichts mehr sagte, wohl aber die Romantik des Klassenkampfs. Was im übrigen auch am veränderten Outfit von damals zu erkennen war. Es begann die Zeit der Uniformierung. Die blauen Falken-Hemden stammen aus dieser Zeit.
Die Hofgeismarer zogen Anfang 1926 die Konsequenz, verließen frustriert die Reichsleitung, lösten sogar ihren Kreis auf und traten mehr oder weniger geschlossen aus den Jungsozialisten aus. Eine rechtskonservative Minderheit verließ sogar die SPD, die meisten aber sahen in der Partei selbst nun ihren weiteren Wirkungskreis. Aber jetzt bin ich schon ein paar Monate zu weit. Einzige Frau in der Jenaer Reichsleitung wurde Maria Hodann – die kennen wir KölnerInnen ja schon.
Im Juli 1925, so meldeten die JB, veranstaltete die Kölner Gruppe eine Arbeitstagung, die von Fließ geleitet wurde. „Als Thema hatten wir einige Fragen der wissenschaftlichen Politik gewählt, wie sie sich im Werk Leonard Nelson: System der philosophischen Rechtslehre und Politik behandelt finden. Dieses Werk hatten wir einmal aus sachlichem Interesse gewählt, dann aber auch, um selbst einmal zu untersuchen, was eigentlich Wahres und Verkehrtes an den Verdächtigungen gegen Nelson und seine Theorien ist.“ Und hier ist des Rätsels Lösung. Fließ und wie Hodann waren nämlich Nelsonianer, bzw. Mitglieder im Internationalen Jugend-Bund (IJB). Die Nelsonianer hatten seit Ende 1922 die Jungsozialisten quasi offen unterwandert, d.h. sie machten aus ihrer IJB-Mitgliedschaft keinen Hehl, die auch für die Jusos zunächst kein Problem darstellte, da der IJB nicht als Konkurrenzorganisation auftrat. Bis Mitte 1925 hatten die Nelsonianer aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes und ihres prinzipienfesten Lebenswandels die führenden Positionen in etlichen Juso-Gruppen erreicht, darunter Hannover, Frankfurt, Magdeburg, einige Berliner und eben Köln. Die Nelsonianer hatten bedeutenden Anteil an der Organisierung des Hannoveraner Kreises und seines Erfolgs in Jena durch ihr Bündnis mit den anderen entschiedenen Hofgeismar-Gegnern.
Marxisten waren sie freilich nicht, wohl Internationalisten. Die politische Theorie des Göttinger Professors Nelson fußte auf Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, die aus der menschlichen Vernunft entsprängen. Vernünftig seien aber nur wenige, die durch einen Erziehungs- und Ausleseprozeß herauszusieben wären, um dann die Führungspositionen in der Gesellschaft zu übernehmen. Diesen Erziehungs- und Ausleseprozeß hatte Nelson nun begonnen, indem er die rigide Kaderorganisation IJB gründete, über deren Politik sowie Mitgliedschaft nur er selbst bestimmte.
Ein ganz schön elitärer Haufen! Bei aller moralischen Integrität, die die Nelsonianer tatsächlich auszeichnete, waren solche Methoden jedenfalls nicht demokratisch zu nennen und boten verständlicherweise Anlaß zu allerhand Verdächtigungen, denen sie dann auf der Kölner Arbeitstagung entgegentreten wollten. Die Anti-Nelson-Kampagne wurde natürlich von den Hofgeismarern betrieben, die so den Hannoveraner Kreis an einem verwundbaren Punkt treffen wollten. Das gelang. Im November 1925 beschloß der SPD-Parteivorstand die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in IJB und SPD. Daraufhin verließen 137 IJBlerInnen die Jusos, darunter auch der oberrheinische Bezirksvorsitzende Fließ, trotz einer Solidaritätsresolution seiner Jusos, und gründeten den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Wieder mal war eine Unterwanderung gescheitert.
Auch wenn heute schwerfällt, für sektenhafte Nelsonianer oder volkstümelnde Hofgeismarer Sympathien aufzubringen, eins muß man sehen: Der Aderlaß in diesen Monaten hat die Jungsozialisten schwer getroffen. Noch auf der Reichskonferenz 1928 beklagten z.B. die Frankfurter ihre empfindlichen Verluste durch den Ausschluß der Nelson-Anhänger und in Hamburg gab es nach dem freiwilligen Austritt der Hofgeismarer überhaupt keine Gruppe mehr. Klein, aber fein, das war von Anfang an die Haltung der Juso-Gruppen aller Richtungen. In der Krise zur Jahreswende 1925/26 fehlte es nicht an Stimmen, die mit dieser Tradition brechen wollten, so etwa Fritz Solmitz aus Lübeck in den JB:
„Die Jungsozialisten sind nicht in der Lage, die der Arbeiterjugend Entwachsenen für sich zu gewinnen. … Entscheidend ist die psychologische Seite. In den Jungsozialisten sammelten sich von vornherein die jungen Menschen, die aus der Jugendbewegung heraus zu persönlicher Gestaltung des eigenen Lebens, zu geistiger Durcharbeitung der sozialistischen Gedankenwelt, zu Neuformung sozialistischen Wollens strebten. – Gelesen klingt das schön; ernst genommen, praktisch angefaßt bedeutet das für jeden Einzelnen Arbeit, Mühe Opfer, zu denen die Masse (ganz gleich welcher sozialen Schicht) niemals bereit ist.“
Die SPD und ihre Jugend: Aufeinanderzu – voneinanderweg. 1926-29
Die SPD war überaltert. Biologisch und geistig. Eine statistische Untersuchung, durchgeführt in Bremen und Hannover, hatte es 1926 an den Tag gebracht: Mitglieder bis 25 Jahre: 7,7 %. Mitglieder über 40: 57,4 %. Der linkssozialistische Theoretiker Alexander Stein, im Auftrag des SPD-Bildungsauschusses seit 1925 Geschäftsführer der Jusos, analysierte auf der Reichskonferenz der Jusos im Juni 1927 diese Zahlen so:
„Das ist ein schlimmes Mißverhältnis, weil wir vor dem Krieg gewohnt waren, in unseren Reihen gerade die jüngeren und kraftvolleren Generationnen zu sehen. … Ich betonte schon, daß in erster Linie der Krieg hier als Ursache in Frage kommt. Hunderttausende unserer Besten sind gefallen. … Ich möchte aber zugleich bemerken, daß dies Problem der Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft und der geringen Vertretung der Jugend in der SPD nicht bloß ein Problem der Generationen ist, sondern auch zu einem wesentlichen Teil zurückzuführen ist auf die gewaltigen Erschütterungen, die die Arbeiterbewegung in Deutschland und in anderen Ländern in den Jahren seit 1914 durchgemacht hat. … Man denkt gern zurück an die Partei vor dem Kriege, namentlich in Deutschland, wo man mit einer organisatorisch festgefügten und geistig einheitlichen Bewegung zu tun hatte, die keine Zerrissenheit, keine Herabsetzung, keine gegenseitige Verunglimpfung, keine berufsmäßige Verhetzung der Arbeiterschaft kannte. Man denkt gern an diese Zeit zurück, wie etwa der reife Mensch an die Jugendzeit zurückdenkt, mit einem Gefühl des Neides und des Bedauerns. Aber dieses Gefühl darf uns nicht verleiten, diese Gegenwart nur mit dem Maßstab der Vergangenheit zu messen und nur die Schablone der ‚guten alten Zeit‘ als richtungsgebend anzunehmen.“
Das Verständnis der SPD für die Anliegen der Jungsozialisten war in der Tat gering – ihre Bereitschaft, Widerspruch zu akzeptieren aber noch viel geringer. Natürlich war es fraglich, inwieweit die Jusos angesichts ihrer geringen Mitgliederzahlen und ihrer tendenziell elitären Haltung die Generationenlücke in der SPD zu schließen in der Lage waren. Hier war die SAJ mit ihren über 50.000 Mitgliedern wichtiger.
Angriffe des Parteiapparates verstärkten sich jedoch genau zu dem Zeitpunkt, als die Jusos sich auf die Seite der innerparteilichen Linken zu schlagen drohten. Vielfach wurde die Existenzberechtigung der Jusos wieder in Frage gestellt. In einem Beschluß der dem Parteivorstand ergebenen SAJ-Führung wurde 1926 die SAJ-Altersgrenze auf 20 Jahre erhöht – eine alte Forderung der SAJ-Linken übrigens – ohne damit aber die erhoffte Schwächung der Jusos zu erreichen.
Daß es nicht zur völligen Konfrontation kam, lag daran, daß bei den Jusos nun eine Bewegung auf die SPD zu erfolgte, bzw. daß die führenden marxistischen Jusos nun die Anbindung an die SPD propagierten und auch betrieben. An erster Stelle ist hier der Juso-Reichsvorsitzende Franz Lepinski zu nennen, der 1926 mit dem SPD-Parteivorstand erstmals eine allgemeingültige Satzung für die jungsozialistische Bewegung aushandelte, sowie Richtlinien für dieselbe. Hierin waren weitreichende Kontrollmöglichkeiten für die Partei vorgesehen, von denen man heute nur träumen kann (evt. Alpträume): Aus den Richtlinien:
„3. Die Jungsozialisten regeln ihre Angelegenheiten im Einvernehmen mit der Partei bzw. den Bildungsausschüssen (auf vielen Parteiebenen hatte die SPD Bildungsausschüsse ins Leben gerufen, d.V.). In die Orts- und Bezirksbildungsausschüsse entsenden die Jungsozialisten einen stimmberechtigten Vertreter. Das gleiche Vertretungsrecht haben die Bildungsausschüsse gegenüber den Orts- und Gauleitungen der Jungsozialisten. An den Orten haben die Jungsozialisten in engster Fühlung mit der Parteiorganisation zu arbeiten und sich in den Dienst der Partei zu stellen.“
„4. Die Bezirks- und Ortsorganisationen der Partei haben den Aufbau und die Tätigkeit der Jungsozialisten tatkräftig zu unterstützen und für sie nach Möglichkeit auch Mittel zur Verfügung zu stellen.“
„6. In der Reichsleitung der Jungsozialisten haben je ein Vertreter des Parteivorstandes und zwei des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit Sitz und Stimme. Die Vertretung der SAJ in der Reichsleitung der Jungsozialisten und umgekehrt bleibt wie bisher bestehen. In Streitfällen innerhalb der Reichsleitung entscheidet der Parteivorstand.“ (Huch!)
Wer nun glaubt, daß ein einziger empörter Aufschrei erfolgt wäre, hat sich geschnitten. Im Gegenteil. Die übergroße Mehrheit der Jusos feierte geradezu, daß sie nun „untrennbarer Bestandteil“ der SPD seien und in ihr die besondere Aufgabe der Erziehung hätten und wandte sich mit Vehemenz der Diskussion der marxistischen Theorie zu, gegen die die SPD-Bildungsausschüsse auch nichts einzuwenden hatten. Und diese Theorie forderte geradezu ein „heraus aus der Isolation“ und eine disziplinierte Mitarbeit in der SPD. Die Jusos waren in der Frage der Richtlinien, also der Parteiautorität, ebensosehr Treibende wie Getriebene. Auf der Reichskonferenz Pfingsten 1927 in Dresden fand sich nur ein einziger Kritiker der Richtlinien. Und die SPD war im Ganzen froh, daß jemand die Bildungsarbeit übernahm. So hatten sich SPD und Jusos nach der Beziehungskrise 1925/26 also aufeinander zubewegt, freilich machte die SPD nur die Bildungsnische frei, und die dort verhandelten Theorien standen im deutlichen Gegensatz zur SPD-Tagespolitik. Noch aber waren die Jusos guten Mutes, die SPD von morgen zu sein.
Der wahrscheinlich einflußreichste Theoretiker, was die Jusos betrifft natürlich, war der österreichische Linkssozialist Max Adler, Professor in Wien. Sein Marxismus-Verständnis kam der jungsozialistischen Tradition, daß es nämlich außer auf die Produktionsverhältnisse auch auf den Menschen ankäme, bzw. auf die Veränderung von beiden, sehr entgegen. Gerade hierin standen auch die marxistischen Jusos von 1925 ganz in der Tradition der Anfänge. Hier ist nicht der Ort, Adlers Theorie darzustellen, wichtig und für das spätere Verhalten der Jusos kennzeichnend scheint mir aber seine Stellung zur konkret existierenden Weimarer Republik zu sein, wie er sie beispielsweise auf einer Juso-Arbeitswoche im September 1925 äußerte. Die Zusammenfassung kann ich dankenswerterweise Maria Hodann überlassen, die das für die JB machte: „Nationale Idee: Die Nation ist keine ursprüngliche Lebensform, sondern ein historisches Produkt“ – „Demokratie: Die Demokratie im Klassenstaat ist eine Illusion.“
Die realen Enttäuschungen der ArbeiterInnen über ihre Machtlosigkeit im Weimarer Staat und eine verkürzte Übernahme des Marxschen Schlagworts vom Staat als Instrument der herrschenden Klasse ergänzten sich bei den Jusos zu einer verächtlichen Haltung gegenüber der Republik, die noch gestärkt wurde durch die prinzipienlose Politik der SPD-Reichstagsfraktion.
Doch blicken wir erstmal nach Köln. Hier sind die Nachrichten nun lückenhaft. Der Gau Oberrhein berichtete in den JB über seine Bezirkskonferenz in Trier (Oberrhein, das war der heutige Mittelrhein plus Rheinland-Pfalz ohne Pfalz). Die fand im Februar 1927 statt, und zwar interessanterweise (und typischerweise) im Anschluß an die Bezirkskonferenz der SAJ. Die Konferenz hörte zunächst das Referat „Partei und Jungsozialisten“ des Genossen Schröder vom SPD-Bezirksvorstand und nahm folgende Resolution an: „Nach eingehender Aussprache über die Richtlinien erklärt sich die Konferenz bereit, im Sinne der Richtlinien im Rahmen der Partei zu arbeiten.“ Das konnte uns nun nicht mehr überraschen. Der bisherige Juso-Gauleiter (so hieß das!) Curt Brenner aus Oberstein/Nahe wurde wiedergewählt, d.h. er dürfte der Nachfolger von Walter Fließ gewesen sein. Köln schickte Fritz Pappenheimer in die Gauleitung und Alfred Müller als Abgesandten für die SAJ-Bezirksleitung. „Mit dem Gesang der Internationale fand die Gaukonferenz ihr Ende.“
Spätestens 1927 war Bernd Hoffmann in Köln aufgetaucht und Vorsitzender der Ortsgruppe geworden. Er war 1921 Mitbegründer der Breslauer Juso-Gruppe gewesen, hatte, als gelernter Kaufmann, 1924 ein Studium der Nationalökonomie aufgenommen und dieses dann in Köln fortgesetzt. Mit ihm begann in Köln die enge Zusammenarbeit der Gruppe Sozialistische Studenten, deren Vorsitzender er ebenfalls war, mit den Jusos. Breslau war eine Hochburg der linksradikalen Jusos und übrigens die einzige Stadt in Deutschland, in der sie je eine Mehrheit der SPD hinter sich hatten. Dies wirft ein Licht auf die politische Verortung der Kölner Gruppe, allerdings muß dabei bedacht sein, daß Hoffmann anläßlich eines Besuchs in seiner Heimatstadt von den dortigen GenossInnen zu seinem Verdruß als Rechtsabweichler kritisiert wurde.
Die nächste Konferenz des Gaues Oberrhein fand im März 1928 statt, wie wieder aus den JB zu erfahren ist. Müller, der schon erwähnt wurde, eröffnete die Tagung, auch der schon bekannte Genosse Schröder war wieder da. Das Referat hielt diesmal Stein zum Thema „Die kulturelle Lage der Arbeiterschaft und ihre Gegenwartsaufgabe“ und schließlich: „Der letzte Tagesordnungspunkt: Wahlen, Anträge, ergab, daß die Gauleitung nach Köln verlegt wird, weil dort auch die Bezirksinstanzen der SPD und SAJ. sind. Gauleiter wurde Hoffmann, Köln. Dem bisherigen Vorsitzenden, Brenner, wurde in kurzen Worten für seine rastlose Arbeit gedankt.“
Von drei Gruppen mit 65 Mitgliedern berichtete der Gau Oberrhein Herbst 1928 in JB. Welche, wurde nicht gesagt. Natürlich war Köln eine davon. Aus 1922/23 wissen wir von Gruppen in Bonn und Godesberg, aber ob die noch existierten? Weiter hieß es: „Unser Verhältnis zur Partei ist gut. Leider können wir das nicht von der SAJ sagen. Wir arbeiten sehr gut mit den sozialistischen Studenten zusammen.“ Was das gute Verhältnis zur SPD betraf, so sollte sich das bald ändern.
Die „goldenen 20er Jahre“ hatten erst 1924 mit der Währungsreform begonnen. Eine politisch relativ stabile Zeit mit moderatem wirtschaftlichen Aufschwung. Das Jahr 1927 brachte sogar einen sozialpolitischen Meilenstein mit der erstmaligen Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Dabei war die SPD gar nicht an der Regierung beteiligt, und die Sache wurde von den im Zentrum recht starken christlichen Gewerkschaftern durchgesetzt. Sehr zum Mißfallen von Krupp und Konsorten, die nun langsam ihr Vertrauen in die bürgerliche Mitte verloren. Dann kamen die Reichstagswahlen vom Mai 1928. Die SPD gewann 3,8 % hinzu und durfte sich mit 29,8 % als Wahlsieger fühlen. (Der Trend hielt sich übrigens einigermaßen bis 1929 zu den Kommunalwahlen, bei denen sich die Kölner SPD wieder auf ca. 22 % verbesserte und die abgesunkenen Kommunisten von Platz zwei verdrängte.)
In der Konsequenz stieg die SPD wieder in die Reichsregierung ein, diesmal im Rahmen einer großen Koalition mit der von Gustav Stresemann geführten nationalliberalen DVP, der liberalen DDP, dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei. Reichskanzler wurde Hermann Müller, der Parteivorsitzende der SPD. Auf was die SPD sich da eingelassen hatte, wurde schnell offenbar. Eine der Kernaussagen des erfolgreichen Wahlkampfes hatte nämlich „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ geheißen – eine gerade unter Jugendlichen populäre Parole.
Angeregt durch die wehrpolitische Debatte hatten die Kölner Jusos eine Antikriegsausstellung erarbeitet, die Ende Juli im sozialdemokratischen Volkshaus in der Severinstraße (da wo heute die Auffahrt zur Severinsbrücke ist) gezeigt wurde. Dazu die JB:
„Die Ausstellung stand acht Tage offen und wurde von stark 1200 Personen besucht, davon waren: 250 Erwachsene (über 25 Jahre), 500 weibliche Besucher, 700 männliche Besucher.“
Im August war alles Makulatur. Das Kabinett beschloß, mit den Stimmen der SPD-Minister, den Bau des Panzerkreuzer A (B sollte noch kommen!). Wieder einmal wurde die Militärpolitik zum Knackpunkt sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit; Pershing II läßt grüßen. Der Sturm der Entrüstung war ziemlich heftig und brachte die ansonsten unerschütterliche Mehrheit der SPD-Rechten ins Schwanken. Eine kurz nach dem Beschluß einberufene Mitgliederversammlung der Kölner SPD verurteilte scharf das Verhalten der SPD-Minister. Auf der Jahreshauptversammlung am 29. Januar 1929 konnte der Kölner SPD-Reichstagsabgeordnete und führende Kopf des rechten Flügels Wilhelm Sollmann das Ruder allerdings herumreißen. U.a. wurde ein Antrag aus Köln-Süd, der einen rein defensiven Charakter der Reichswehr forderte, abgelehnt. Reichstagsfraktion, Parteivorstand und Funktionärskörper waren in ihrer Mehrheit entschlossen feste zu regieren. Daß sie dabei die Basis ihrer Macht untergruben, nämlich die Gefolgschaft der ArbeiterInnen, besonders der jüngeren, weigerten sie sich zu sehen. Sie glaubten, für die Taktiken der Parlamentspolitik bei ihren AnhängerInnen Einsicht fordern zu können. Diese Kurzsichtigkeit war einer der Gründe für den Untergang.
An Bord der Titanic. 1930/31
Das Jahr 1930 war das erste Jahr der schlimmsten Wirtschaftskrise, die Deutschland (und die kapitalistische Welt) bislang erlitten hat. Die heute, 1996, erneut hohe Arbeitslosigkeit unterscheidet sich von der damaligen grundlegend: Wegen des allgemein niedrigeren Lebensstandard konnte schnell der Hunger an die Tür klopfen. Jugendliche, deren Lehre Anfang der 30er Jahre auslief, hatten kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz.
Wegen der Krise sanken die Steuereinnahmen. Es setzte staatlicherseits eine immer rigider werdende Sparpolitik ein. Die Industriekäpitäne drängten nun zu einer grundsätzlichen Richtungswende in der ganzen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das kennen wir ja. Nun war die von ihnen beherrschte Partei, die DVP, Hauptkoalitionspartner der SPD in der Reichsregierung. Der Bestand der Regierung, oder besser der Verbleib der SPD in dieser, hing also vor allem davon ab, wie weit die SPD zu Zugeständnissen bereit war. Der Panzerkreuzer A war ja nur eines davon, in den Augen der SPD-Fraktion eine Kleinigkeit. Das Ende der Fahnenstange war erreicht, als anläßlich eines Streits um den Arbeitgeberanteil an der Arbeitslosenversicherung der Gewerkschaftsbund ADGB dem Reichskanzler Müller die Gefolgschaft verweigerte. Im März 1930 traten die Sozialdemokraten aus der Regierung aus.
Daß die Große Koalition an der Basis durchaus unpopulär gewesen war, hatte sich z.B. auf der Kölner Jahreshauptversammlung im Februar gezeigt, als ein Antrag Sollmanns, welcher sich für eine Fortsetzung der Koalition aussprach, abgelehnt wurde. Die SPD-Linke setzte einen Antrag durch, der die Fortsetzung an unrealistische Bedingungen band.
Die Kritik der Jusos war, ihrer marxistischen Schulung und ihren enttäuschenden Generationserfahrungen gemäß, eher grundsätzlicher Natur. Republik, das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel – das war die Losung, die man prima als Sprechchor aufführen konnte. Die reformistische Praxis der SPD wurde verworfen, z.B. formulierte schon im Oktober 1928 der sächsische Juso-Landesvorsitzende Helmut Wagner aus Dresden in den JB, daß die Bourgeoisie nun gegen „lächerlich geringe Konzessionen“ die Verantwortung für die kapitalistische Politik der SPD aufbürde, und daß dies zur Frustration der ArbeiterInnen und zur Diskreditierung des Parlamentarismus führen müsse.
Das Ende der Koalition brachte ein innerparteiliches Aufatmen, eine scheinbare Wiederherstellung des Gleichschritts von Führung und Basis in der Opposition. Die Regierungspolitik wurde natürlich schlimmer. Neuer Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit wurde 1930 der konservative Zentrumspolitiker Heinrich Brüning. Ernannt wurde er gemäß der Verfassung vom Reichspräsidenten Paul Hindenburg, Verzeihung, Paul von Hindenburg, dem Ex-Generalfeldmarschall des 1.Weltkrieges, der vom deutschen Volke in diese Position gewählt worden war.
Brüning konnte mittels sogenannter Notverordnungen regieren, die zunächst ohne Parlamentsbeschluß Gesetzeskraft erlangten, aber innerhalb einer bestimmten Frist nachträglich von einer Parlamentsmehrheit anulliert werden konnten. Das war der Trick: Brüning brauchte keine positive Mehrheit. Im Juli ließ die SPD auf diese Weise eine Notverordnung zur Steuererhöhung platzen. Brüning reagierte kalt. Er ließ Hindenburg den Reichstag auflösen und Neuwahlen ausschreiben.
Die Wahlen vom 14. September 1930 wurden eine Zäsur in der Geschichte der Republik und der der Jusos. Sie endeten mit einem Schock: Die Nationalsozialisten (NSDAP) steigerten ihren Stimmenanteil von 2,6 % auf 18,3 %!
Viele der LeserInnen werden sich noch an die allgemeine Nervosität nach den Landtagswahlerfolgen der Republikaner erinnern. Das war gar nichts! Die NSDAP war eine Terrortruppe. Überfälle bis hin zu Mordanschlägen auf Andersdenkende gehörten zu ihrer Praxis, und der Terrorismus verstärkte sich von nun an ständig bis zum Ende der Republik 1933, als Justiz und SS diese Funktion übernahmen. Und diese Lehre zogen die Jusos aus den Wahlen:
„Das Barometer der politischen Entwicklung in Deutschland steht auf Sturm. Nationalsozialisten und Kommunisten (Die KPD hatte 2,5% hinzugewonnen, die SPD 5,3% verloren, d.V.) sind am Werke, die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hinwegzufegen. Außenpolitische Gefahren größten Ausmaßes stehen vor der Tür. Das Bürgertum hat den Boden der Demokratie verlassen. Dem Faschismus ergeben, bereitet es, die Völker verhetzend, neuen Krieg vor. In dieser Situation rufen wir alle Genossen und Genossinnen, alle Arbeiter und Arbeiterinnen auf, durch vervielfachte Aktivität die Reihen des organisierten Jungproletariats zu stärken und kampffähig zu machen. Zehn Jahre Jungsozialisten liegen hinter uns. Das sind zehn Jahre der Arbeit in der Organisation, zehn Jahre Arbeit für ihren Ausbau, zehn Jahre Kampf für ihren Bestand. Heute gilt es, zu beweisen, daß diese zehn Jahre nicht verloren sind. Wir stehen als fester Kerntrupp inmitten einer Welt von Feinden der Arbeiterklasse. Es gilt zu beweisen, daß in uns die Kräfte lebendig sind, diesen Feinden zu trotzen, die deutsche Arbeiterschaft vor dem sinnlosen Wüten des Faschismus zu bewahren. Wir sind entschlossen und mutig, aber wir sind noch zu wenige. Stärkung der eigenen Reihen ist heute die Parole in der Stunde ernstester Gefahr. … An die Arbeit, Genossen! Diese Welt muß unser sein!
Reichsleitung der Jungsozialisten“
Dieser dramatische Aufruf zur Aktivität prangt auf der Titelseite der JB vom Oktober 1930. Die Jusos nahmen die Nazi-Gefahr sehr ernst. Es schien ihnen wie Schuppen von den Augen zu fallen: Die Zeit der Bildungselite war vorbei, es galt zu kämpfen! Elite wollten sie schon bleiben, als „fester Kerntrupp der Arbeiterklasse“, der sie natürlich nicht waren, eher eine Randgruppe, die schon durch ihren jugendbewegten Habitus in der wirklichen Arbeiterklasse isoliert war. Die Nazis hatten gerade unter JungwählerInnen große Erfolge gehabt, worüber sich Dora Fabian aus Berlin im gleichen Heft Gedanken machte:
„Haben wir versagt? Die soziologischen und psychologischen Faktoren, die zur Ausbreitung des Faschismus unter dem Jungproletariat geführt haben, beweisen, daß die politische Haltung der Jungsozialisten, die eine jugendlich-revolutionäre, oppositionelle, klassenbewußte Politik an Stelle der blinden Verantwortung für Staat und Demokratie gefordert haben, dem proletarischen Kampfeswillen der heutigen Jungarbeiterschaft richtig Rechnung getragen hat. Daß wir uns in der Partei nicht durchsetzen konnten, war nicht unsere Schuld.“
Was ist zu tun? Sie fuhr fort:
„Die Umstellung, die in dieser Stunde ernstester Gefahr für unsere Arbeit notwendig ist, lautet: Im Augenblick nicht Vertiefung, sondern Verbreiterung. Nicht theoretische Klarheit (die ist vorhanden), sondern praktischer Einsatz! … Wir sind bereit. Aber fähig sind wir nur dann, wenn wir heute alle Kleinmütigkeit begraben, alle Rücksichten, die wir viel zu lange auf andere genommen haben, fahrenlassen, wenn auch wir Jungsozialisten – auf jede Gefahr hin – bewußt unsere Arbeit umstellen, wenn wir in der ersten Novemberwoche zur Massenorganisation des revolutionären Jungproletariats werden.“
Das war das Stichwort. Massenorganisation. Dies setzte in der Tat einen gründlichen Bruch mit der Juso-Tradition des „klein, aber fein“ voraus. Die Gefahr eines anderen Bruchs deutete Fabian hier allerdings auch an, wenn alle Rücksichten fahrengelassen würden, nämlich den mit der SPD.
Die SPD-Reichstagsfraktion und mit ihr der Parteivorstand verarbeiteten den Schock der Septemberwahlen auf eine ihnen gemäße Weise. Fortan ließen sie alle Notverordnungen Brünings passieren, weil dieser kaltschnäuzig mit erneuten Neuwahlen drohte, von denen ja nichts Gutes zu erwarten war. Zum Entsetzen der SPD-Linken setzten sie also nach kurzer Unterbrechung die frühere Koalitionspolitik fort, ohne in der Regierung zu sein. Sie rühmten sich, so die Beteiligung der Faschisten an der Staatsmacht zu verhindern. Und da solch ein Schiff in eisigen Gewässern eine gute Musikkapelle braucht, konnten keine Mißtöne geduldet werden.
Ich hatte es ja schon zu Beginn verraten: Das Ende der Jusos ist nun nah. Wir kommen zum letzten Akt. Ausnahmsweise fange ich mit dem Schluß an, weil hier die Sichtweise der überwältigenden SPD-Mehrheit zum Ausdruck kam: Dem SPD-Parteitag 1931 in Leipzig, der vom 31. Mai bis zum 5. Juni stattfand, also keine neun Monate nach den Reichtagswahlen vom September 1930.
Als ein Hauptpunkt der Tagesordnung wurde über „Partei und Jugend“ diskutiert. Hauptreferent war der SAJ-Vorsitzende Erich Ollenhauer, der spätere Parteivorsitzende der 50er Jahre. Nachdem Ollenhauer die schwierige Lage der Jugend in der Wirtschaftskrise, sowie ihre Bedeutung als JungwählerInnen analysiert hatte, stellte er die Notwendigkeit fest, um die Jugend kämpfen zu müssen. Lobend erwähnte er die erfolgreiche Jugendarbeit bei SAJ, sozialdemokratischer Gewerkschaftsjugend und Arbeitersport, die zusammen mehr als 600.000 Jugendliche sozialistisch organisiert habe. Auch in der SPD seien 80.000 Mitglieder unter 25 Jahren organisiert, eine Zahl, die keine andere Partei aufweisen könne. Dann wandte er sich gegen eine leichtfertige Politisierung der Jugendgruppen. Hören wir ihm zu:
„Die Aufgabe der Parteigenossen, auch der aus der Jugendorganisation kommenden Parteigenossen, in der Jugendorganisation ist, Vermittler zwischen SPD und Jugend zu sein. Sie sollen für die SPD werben, und das kann man nicht, wenn man, wie wir es erlebt haben, vor der Jugend immer nur kritisch von der Partei spricht. Kritik ist berechtigt, aber wir üben sie in der Partei selbst.“
Hier ist es, das Mißbehagen über die parteikritische Jugend, die ihre Kritik seit den Septemberwahlen ja auch öffentlich formulierte und nicht nur intern. Und es werden auch schon die „Verderber der Jugend“ ausgemacht, die falschen Referenten. Die Frage war nun, wie der politische Gestaltungswille der Jugend in die richtigen Bahnen gelenkt werden könne.
„Die Partei hat früher den Standpunkt vertreten, man müsse der Jugend innerhalb der Partei Raum zur Gestaltung eines gewissen Eigenlebens geben. Das war der Anlaß zu dem Kasseler Beschluß über die Gründung von jungsozialistischen Gruppen. Dieser Beschluß war damals berechtigt … Die Jungszialisten sollten Mittler sein zwischen Partei und Jugend. In ihren Gruppen sollte die Einsicht geweckt werden, daß nur auf dem Wege der praktischen Politik die hohen Ideale der Jugend verwirklicht werden können. Wir müssen heute feststellen, daß davon nichts mehr übriggeblieben ist.“ An dieser Stelle vermerkt das Protokoll Zustimmung beim Parteitag. „Ich will hier nicht an einzelnen Beispielen die Entwicklung der Jungsozialisten kritisch beleuchten; denn das Urteil der großen Mehrheit der Partei über die Jungsozialisten von heute steht fest, und der Parteitag braucht nur noch dieses Urteil schriftlich festzulegen. (Sehr richtig!)“
Was war die Schuld, die die Jusos auf sich geladen hatten?
Ollenhauer wies darauf hin, daß es laut Erhebung der Juso-Reichsleitung zur Zeit etwa 2.000 Jusos gebe, selbst wenn man mit tatsächlich 3.000 Jusos rechne, sei das ein völliges Versagen bei der Organisierung der 80.000 Parteimitglieder unter 25 Jahren. Interessant ist, daß also von Seiten der SPD-Führung den Jusos vorgeworfen wurde, sie seien keine Massenorganisation. Dies traf sich auf merkwürdige Weise mit der Selbstkritik der Jungsozialisten. Natürlich sah er völlig andere Gründe:
„Eine wesentliche Ursache für das Versagen der Jungsozialisten ist m.E. die Tatsache, daß die Bewegung in den letzten Jahren zu einer reinen Richtungsorganisation umgestellt worden ist. (Sehr wahr!)“
Während die Jusos selber also in ihrer Beschränkung auf die Bildungsarbeit und in der Rücksichtnahme auf die unpopuläre SPD-Politik ihr Manko sahen, sah die SPD-Führung gerade in der Juso-Radikalität den Grund für deren Sektendasein. Die SPD machte sich durchaus Sorgen wegen der NSDAP-Erfolge und wollte die Jugend stärker agitieren. Der in der Jugend gängige Radikalismus beruhe aber auf Gefühl und Wunderglaube. Auf dieses Niveau könne sich die SPD nicht begeben, vielmehr sollte die Masse der jüngeren SPD-GenossInnen aktiviert werden, um bei der Jugend für Vernunft zu werben.
Dabei schienen die Jusos im Weg zu stehen.
Das Urteil des Parteitages hieß schlicht: „Der Beschluß des Kasseler Parteitages betr. Einrichtung von Jungsozialisten-Gruppen ist aufgehoben.“ Sieben Gegenstimmen. Nicht mal die SPD-Linke trat noch für die Jusos ein.
Dabei hatte es noch einen Rettungsversuch gegeben; und jetzt wechseln wir wieder die Perspektive. Was sich da anbahnte, wurde eigentlich jedem/r klar, als bereits am 27. November 1930 die Jungsozialisten im Bezirk Berlin vom SPD-Bezirksvorstand aufgelöst wurden. Vorangegangen war ein Konflikt um den sogenannten Jungordnerdienst. Die Gründung von Jungordnerdiensten war eine Konsequenz aus der Septemberwahl, mit der Jusos, linke SAJ-ler und Arbeitersportjugend endlich zur Tat schreiten wollten, um den Angriffen der Nazis entgegentreten zu können. Außerdem gab das der öffentlichen Propaganda ein militanteres Erscheinungsbild, womit man hoffte, mehr Anhäger um sich scharen zu können.
Die SPD beharrte dagegen auf dem Standpunkt, es gebe ja das Reichsbanner, dort sollten die Jugendlichen aktiv werden. Das Reichsbanner war eine gemeinsame Gründung von SPD, Zentrum und DDP gewesen, also den staatstragenden Parteien vom Anfang der Weimarer Republik. Es galt als „Republikschutz-Organisation“ und schützte konkret die Parteiversammlungen vor Nazi- oder Kommunistenübergriffen. Für die marxistischen Jusos kam eine Organisation, die bürgerliche Elemente in ihren Reihen hatte, nicht in Frage. Republikschutz war ohnehin nicht ihr Thema, eher schon sozialistische Revolution. Zunächst aber rechneten die Jusos durchaus mit der Möglichkeit, daß Hitler legal an die Macht gelangen könnte und wollten in diesem Falle gewaltsamen Widerstand leisten, zu dem das Reichsbanner jedenfalls nicht bereit und in der Lage war, und wie sich zeigen sollte, auch die SPD nicht.
Gewaltanwendung gegen den Staat lag eben nicht in der SPD-Tradition, seit 1863. In Berlin jedenfalls wurden die Jungordnerdienste vom SPD-Bezirksvorstand verboten und kurz darauf die Jusos, wobei der entscheidende Vorwurf allerdings war, daß die Jungsozialisten sich zur „Partei in der Partei auswirken“ wollten, wie in JB vom Januar 1931 zitiert ist. Der neue Wille der Jusos, eigenständig Politik zu machen, war oben bemerkt worden und wurde quittiert. Daß der Berliner Bezirk eher zur SPD-Linken gehörte, zeigt, wie isoliert die Jusos in der SPD waren.
Der SPD-Parteiausschuß beschäftigte sich schon am 2. Dezember mit der Sache, billigte zwar den Berliner Beschluß, forderte aber ansonsten nur eine Reorganisation der Jungsozialisten, um die Arbeit der „jungen Parteigenossen“ auf eine breitere Grundlage zu stellen und die „innere Geschlossenheit und Schlagkraft der Partei“ zu stärken. Die Juso-Reichsleitung erklärte sich angesichts der Lage dazu bereit, an der Reorganisation mitzuwirken und Vorschläge zu erarbeiten. An diesem Rettungsversuch sollten sich bei den Jusos die Geister scheiden. Hinter dem schließlich am 15. Februar fertigen Vorschlag stand gewissermaßen das marxistische Zentrum der Jusos, mit dem Reichsvorsitzenden Franz Lepinski an der Spitze. Der stellte ihn in JB im März 1931 vor:
„Die Eroberung der Massen der arbeitenden Jugend für die Partei ist aber heute die große politische Forderung. Dazu bedarf es eines größeren Rahmens, als die jungsozialistische Bewegung ihn bisher besaß. … In jedem Ortsverein werden die Jugendlichen bis zum 25. Lebensjahr zu jungsozialistischen Gruppen zusammengefaßt. Diese Gruppe ist ein Teil des Ortsvereins. Ihre Leitung liegt in den Händen eines Jungsozialisten (Obmanns), je eines Vertreters der Partei und der SAJ. Der Obmann der Jungsozialisten ist Mitglied des Ortsvereinsvorstandes.“
Das war schon neu, daß nun jede/r unter 25 Jahren automatisch Juso war und nicht formal seinen oder ihren Eintritt erklären mußte. Der SPD-Parteivorstand erhoffte und viele Jusos befürchteten eine damit verbundene Verwässerung linker Positionen. Heute können wir darüber lächeln, längst ist diese Regelung (unter 35 Jahren) in der SPD eingeführt, ohne daß deswegen mehr GenossInnen zu den Juso-Versammlungen kämen. Daß die neuen Juso-Gruppen nicht mehr ihren eigenen Vorstand bestimmen sollten, war natürlich eine bittere Pille, aber ein Teil der Jusos war entschlossen, auch unter solchen Bedingungen den Kampf um eine Veränderung der SPD weiterzuführen. Dazu gehörte Fabian, die im selben JB-Heft unter der Überschrift „Haben wir ‚kapituliert‘?“ schrieb:
„Deshalb gilt nach diesen letzten Erfahrungen doppelt das, was wir nach dem 14. September sagten: wir müssen zu einer Massenorganisation werden. Dazu bieten die jetzt angenommenen Richtlinien die Grundlage. Erst jetzt wird sich zu erweisen haben, ob wir imstande sind, die Forderungen zu erfüllen, die wir an uns selbst stellten: nicht Diskussionsgruppen, sondern politische Energien zu sein. Da wird freilich eingewandt: man macht es uns unmöglich, uns zu beweisen, wenn man uns unsere bisherige organisatorische Selbständigkeit nimmt. Es soll gerne zugegeben werden: leicht macht man es uns nicht. Aber das sollten wir doch aus der Geschichte der jungsozialistischen Bewegung gelernt haben: ihr Weg ging stets über Widerstände. … Welch trauriges und kleinmütiges Eingeständnis, daß die marxistische Richtung in der Partei nur in kleinen Gruppen ihr Dasein fristen, nicht aber als Wegweiser in die breiten Massen vorstoßen kann! Und wie sehr im Widerspruch zu den Erfahrungen der letzten Monate!“
Die neuen Richtlinien waren freilich erst im Juso-Reichsausschuß angenommen worden und mußten noch vor die Juso-Reichskonferenz, die dann im April 1931 in Leipzig tagte. Dort hatte die Juso-Reichsleitung keine Mehrheit mehr. Mit 37 zu 31 Stimmen wurde beschlossen:
„Die Aufrechterhaltung der Jungsozialisten hat nur einen Zweck unter der Voraussetzung, daß diese Organisation nicht zu einem Hemmnis der politischen Arbeit der jungen Generation wird, daß also ihre Bewegungsfreiheit auf dem Boden des Parteiprogramms in vollem Umfang gewahrt bleibt. Die Reichskonferenz lehnt eine Reorganisation der jungsozialistischen Bewegung ab, die die Aufhebung der geistigen Selbständigkeit und der inneren Selbstbestimmung der Jungsozialisten zur Folge hat und deshalb als ein Ausnahmegesetz zur Unterdrückung der politischen Willensbildung der jungen Generation in der Partei betrachtet werden muß.“
Nachzulesen ist diese trotzige Selbstbehauptung in JB vom Mai 1931; oder soll man besser Selbstaufgabe sagen, angesichts der klar zu erwartenden Konsequenzen, die der Leipziger SPD-Parteitag unzweifelhaft ziehen würde? Die bis dato kaum sichtbaren Differenzen bei den als einheitlich marxistisch erscheinenden Jusos materialisierten sich auf der letzten Reichskonferenz als Riß. Der Juso-Vorsitzende Lepinski verzichtete ebenso wie der JB-Redakteur Graf auf eine erneute Kandidatur. In der neugewählten Reichsleitung saßen nun die radikalen Köpfe, deren Politik auf dem SPD-Parteitag nicht einmal mehr Fürsprecher aus der SPD-Linken finden sollte. Wer waren die Linksradikalen?
Jedenfalls: Kölner Delegierte waren an den Abstimmungen nicht beteiligt. Zum Zeitpunkt der Juso-Reichskonferenz gab es die Kölner Gruppe ja nicht mehr, sie hatte sich Mitte Februar 1931 selbst aufgelöst, und das ist eigentlich schon erstaunlich. Blicken wir noch mal auf den Bericht in der Rheinischen Zeitung: Hier erfahren wir außer der Tatsache als solcher nur die Meinung der Kölner SPD-Spitze. Es ist von Meinungsverschiedenheiten die Rede, die gerade nach dem 14. September, vom starkem Idealismus und Opfermut getragen, hervortraten, wo doch ruhige Überlegung und gesammelte Nervenkraft besser am Platz gewesen wären. Ein Seitenhieb auf den Marxismus und der Wunsch, die jungen Genossen mögen sich doch wieder der Bildungsarbeit zuwenden, folgen. Das war’s.
Aus einer früheren Nummer der Rheinischen Zeitung kann man erfahren, daß es in Köln ähnliche Auseinandersetzungen gegeben haben muß wie auch sonst im Reich. Am 9. Februar 1931 berichtete sie über die Jahreshauptversammlung des SPD-Ortsvereins Köln. Zum Geschäftsbericht des Parteisekretärs Lorenz Riedmiller steht da: „Hierbei streifte er kurz die Auseinandersetzungen des Kölner Parteivorstandes mit den Jungsozialisten und Studenten. Niemand habe das Recht – so betonte er – von außen her die Taktik der Gesamtpartei zu bestimmen.“ Er mahnte mit den schönen Worten zur Geschlossenheit: „Wenn man über den Fluß reitet, wechselt man nicht die Pferde“ und wurde schließlich unsachlich: „Leute kritisieren die Gewerkschaften und schimpfen die Führer ‚Reformisten‘, obwohl sie noch nie einen Pfennig Gewerkschaftsbetrag gezahlt haben. (Sehr richtig!)“ In der Aussprache ergriffen Hermann Neumann als Vorsitzender der Sozialistischen Studenten und der Deutzer Distriktvorsitzende und Student Ernst Ransenberg zugunsten der Jusos das Wort. Während letzterer die Jusos mit dem Hinweis, sie wollten nichts anderes als für die SPD werben und seien auch überwiegend in ihr aktiv, lediglich verteidigte, ging Neumann zur Offensive über:
„Er wies zurück, daß die Studenten und Jungsozialisten sich parteischädigend verhalten hätten. … Der Radikalismus der Jugend sei eine Folge der aussichtslosen Zukunft, in die diese Generation hineinwachse. Die jetzige Krise müsse von uns ausgenutzt werden zum Sturz des heutigen Systems. Die Front müsse sich gegen den Faschismus und darüber hinaus gegen den Kapitalismus richten.“
Bemerkenswert ist, daß auf der Jahreshauptversammlung diese Streitpunkte nur anklangen, aber sich nicht etwa in Kampfabstimmungen ausdrückten. Eine Reihe von sehr allgemein gehaltenen Anträgen wurde nahezu einstimmig beschlossen, alle kontroversen Anträge mit Nichtbefassung übergangen und der zitierte Artikel in der Rheinischen Zeitung schließlich mit „Die geschlossene Kölner SPD“ tituliert. Von Repressionen gegen die Jusos erfahren wir nichts, allerdings war das bei dem parteifrommen Blatt auch nicht zu erwarten.
Kurz darauf lösten die Kölner Jusos sich jedenfalls selber auf, und sie waren nicht die einzigen damit.
Vorangegangen war nämlich eine weit wichtigerere Juso-Gruppe, die zahlenmäßig zweitgrößte im Reich (nach Berlin) nämlich die der Dresdener, die sich schon im Januar selbst auflöste. Und da gab es Verbindungen. Die Dresdner Jusos waren in der Tat Repressionen ihres SPD-Bezirksvorstandes ausgesetzt gewesen, der Bestimmungen erließ, die die Auswahl der Referenten kontrollieren und Anzahl und Form der Zusammenkünfte reglementieren sollten. Hinter der Selbstauflösung der Gruppe stand jedoch auch ein theoretisches Konzept, daß vor allem von Helmut Wagner vertreten wurde. Dieses galt natürlich nicht nur für Dresden, vielmehr begründete Wagner es in der Mai-Nummer der JB, Monate nach der Dresdner Selbstauflösung, unter der Überschrift: „Zur Lage der jungsozialistischen Bewegung“ unter anderem so:
„Der Konflikt war also unvermeidlich. Die jungsozialistische Bewegung war viel zu stark am Marxismus orientiert, als daß sie sich in den Rahmen der offiziellen Parteipolitik hätte einfügen können. … Der Konflikt, der als organisatorische Angelegenheit ausgetragen werden soll, ist ein ausgesprochen politischer Konflikt, der sich aus dem Zusammenstoß zwischen dem reformistischen Apparat der proletarischen Bewegung und dem aufkeimenden revolutionären Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft ergibt. … Aber was sich in der Entwicklung der jungen Generation zeigt, das wird über kurz oder lang auch der Inhalt des Klassenwollens der gesamten Arbeiterschaft werden. Und darum können alle die Konflikte zwischen dem reformistischen Parteiapparat und der jungen Generation der Arbeiterbewegung nur als Vorboten der kommenden Auseinandersetzung um die revolutionäre Linie der proletarischen Bewegung betrachtet werden. … Darum muß in dieser Situation offen ausgesprochen werden, daß der Zeitpunkt gekommen ist, um die besondere Organisation der Jungsozialisten aufzugeben, sofern ihr die bisherige Bewegungsfreiheit genommen werden soll.“
Für Wagner und die linksradikale Juso-Richtung ging es angesichts der heraufdämmernden sozialistischen Revolution nur noch um die Frage, wie den klassenbewußten Massen eine revolutionäre Führung gegeben werden konnte. Sie waren dem Juso-Dasein entwachsen.
Das erinnert uns an Neumanns Aufforderung zum Sturz des kapitalistischen Systems auf der Kölner Jahreshauptversammlung. Neumann und Wagner arbeiteten auch bereits in einer innerparteilichen Oppositionsgruppe zusammen, die sich „Rote Kämpfer“ nannte und in Köln von Hans Mayer, dem späteren Literaturpreisträger der Stadt Köln, geleitet wurde. Zur Kölner Gruppe, die in der örtlichen SPD-Linken großen Einfluß hatte, gehörte übrigens auch Heinz Kühn, der nach dem Krieg noch viel größer herauskam, es nämlich bis zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten brachte.
Die Gruppe organisierte sich um eine Zeitschrift herum, eben den Roten Kämpfer, der im November 1930 erstmals erschien und mit seinem politischen Credo eröffnete:
„Der Rote Kämpfer wird geschrieben von Sozialdemokraten und für Sozialdemokraten. An die Stelle einsichtslosen Zurückweichens vor dem Klassengegner und bedingungsloser republikanischer Politik muß treten: klare marxistische Erkenntnis, vollständige Änderung des bisherigen politischen Kurses der Sozialdemokratie.“
Es scheint, daß in Köln die Selbstauflösung der Jusos Mitte Februar 1931 mit der Bildung der Rote Kämpfer-Gruppe als Parteifraktion in engem Zusammenhang steht. Wurden die ersten Nummern der Zeitschrift noch in Bochum herausgegeben, so wechselte die Redaktion im Februar nach Köln, wo im März 1931 die Nummer 4 erschien. Das Leipziger Ende des Weimarer Jungsozialismus dürfte die Kölner GenossInnen nur noch am Rande interessiert haben.
Der Rote Kämpfer war keineswegs das einzige Bruchstück der sich neu orientierenden linksradikalen Jusos und Ex-Jusos. Der Dresdner Juso Walter Fabian gab beispielsweise eine Zeitschrift mit Namen Sozialistische Informationen heraus. Da der Dampfer SPD strikt auf Kurs blieb, wurden schon mal die Rettungsboote klar gemacht.
Die Linksradikalen bedrückte das Gefühl, daß ihnen die Zeit davonlief. So schrieb der Rote Kämpfer in seiner ersten Nummer, wie gesagt im November 1930: „Es kann sein, daß der Faschismus noch vor Ablauf eines Jahres siegt, denn um die Kampfkraft der Arbeiterparteien steht es leider schlecht.“ Und weiter hinten die Ahnung der tatsächlichen historischen Ereignisse: „Auch Hitler/Hugenberg werden wahrscheinlich auf ‚legalem‘ Wege an die Macht kommen.“ Ein Fall, für den die SPD überhaupt kein Konzept besaß. Der aber ernste Folgen hätte: „Es ist weiter mit dem Verbot der Arbeiterorganisationen und mit Terror in jeder Form zu rechnen.“ Der Faschismus könne aber die Wirtschaftskrise nicht lösen „und treibt zudem unaufhaltsam neuen kriegerischen Entwicklungen zu.“ Deshalb die Aufgabe der Opposition, nachzulesen in Nr. 5: „Unsere Aufgabe ist es, den verzweifelten und resignierten Massen wieder Vertrauen einzuflößen zur deutschen Arbeiterbewegung, Vertrauen in die eigene Kampfkraft.“
Damit das alles jetzt nicht einfach nur für kommunistisch gehalten wird, gönne ich mir noch ein Zitat aus der Nr. 8: „Die K.P.D. ist durch eine Apparatdiktatur gekennzeichnet, gegen die die Diktatur des S.P.D.-Apparates ein Kinderspiel ist.“ Im Sommer 1931 wurde die Mitarbeit am Roten Kämpfer und den Sozialistischen Informationen vom SPD-Parteivorstand mit Auschluß bedroht. Die Redaktion des ersteren wechselte daraufhin für zwei letzte Ausgaben nach Dresden und Berlin. Ende September wurden Wagner und Fabian aus der SPD ausgeschlossen. (Fabian wurde nach dem Krieg in Köln politisch aktiv und hat 1981 das Vorwort zu der Broschüre Jungsozialisten heraus! 60 Jahre Jungsozialisten in Köln geschrieben.)
Im schicksalhaften Jahr 1931 entledigte sich die SPD nicht nur der eher lästigen Jungsozialisten. Die SPD-Rechte entschied auch den Streit mit der Linken durch unnachgiebiges Pochen auf die Disziplin. Ende September wurden auch die Reichstagsabgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld aus der SPD ausgeschlossen. Sie waren die Coppik und Hansen von damals (sind die noch bekannt?). Bei der Reichstagsabstimmung über den Bau des Panzerkreuzers B im März hatten sich neun Abgeordnete der SPD-Linken über den Fraktionsbeschluß hinweggesetzt und dagegen gestimmt. Die größere Zahl der Linken blieb der Abstimmung fern. Die Ungeheuerlichkeit, angesichts der einschneidenden Sparbeschlüsse im Sozialhaushalt für weitere Kriegsschiffe zu stimmen, hatte Sollmann fünf Tage zuvor auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der Kölner SPD damit begründet, daß der Bau ja sowieso nicht verhindert werden könne, und daß es besser sei, die bürgerliche Brüning-Regierung setze sich mit Hilfe der SPD durch als mit Hilfe von DNVP und NSDAP.
Der Bogen war überspannt – wie 1915/16 vor der USPD-Gründung. Tausende linke SozialdemokratInnen verließen im Oktober 1931 in Solidarität mit den Ausgeschlossenen die SPD, um eine neue Partei ins Leben zu rufen. Die neue Partei hieß Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), und sie sammelte nicht nur enttäuschte Jusos und SozialdemokratInnen, sondern auch einen Teil der ausgeschlossenen KPD-Opposition (KPO); ihre Jugendorganisation war der Sozialistische Jugendverband (SJV). Tausende im ganzen Reich waren aber nicht genug. Eingeklemmt zwischen SPD und KPD blieb die SAPD bei den Massen ohne Einfluß: In der nächsten Reichstagswahl Juli 1932 erhielt sie in Köln ganze 593 Stimmen. Der Traum vom neuen Gravitationszentrum der Arbeiterbewegung erfüllte sich nicht.
Die SPD-Linke wurde zerrissen. Viele blieben in der SPD, da sie von Spaltungen überhaupt nichts hielten. Gerade als Marxisten wollten sie sich nicht von Gefühlen hinreißen lassen. Sie konnten nun aber den SPD-Kurs weniger denn je beeinflussen. Die Taktik der Parteiführung ging indessen nicht auf. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler durch von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Es folgte der Untergang der gesamten Arbeiterbewegung, trotz des politischen Widerstands einer entschlossenen Minderheit, zu der viele ehemalige Jusos gehörten, sei es, daß sie zuletzt in SPD, in SAPD, im ISK oder anderen Gruppen tätig gewesen waren. Der Krieg schließlich, den die Jusos hatten kommen sehen, verwüstete Europa.