SoFoR-Info 62: Migration und Ökonomie

Flüchtlingsunterkunft Systembau

von Alexander Recht & Astrid Kraus, beide im Vorstand des Sozialistischen Forums Rheinland

Im Zuge der Flüchtlingsbewegung ist eine Debatte entstanden, woraus Migration resultiert, wie mit ihr umzugehen ist und welche Wirkungen sie hervorruft. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Debatte emotional aufgeladen ist. Flüchtlinge sollen unterstützt werden, Menschen aus ökonomisch schwierigen Weltregionen eine Chance auf besseren Lebensstandard haben. Eine ökonomische Engführung des Urteils ist zu vermeiden – es geht um Humanität.

Allerdings ist es von Interesse, sich die ökonomischen Wirkungen von Migration im Rahmen einer humanistischen Argumentation vor Augen zu führen. Für Migration lässt sich nicht nur plädieren, wenn hierbei Beschäftigungsquote und Pro-Kopf-Einkommen steigen, sondern auch, wenn sie sinken. Indes sollte Klarheit über die Konsequenzen bestehen, was gut mit echten Zahlen der Veränderungen von 2015 auf 2016 darstellbar ist.

Arbeitsmarkt

Fangen wir an mit der Arbeitsnachfrage: Die Menge der produzierten Güter und Dienstleitungen (reales BIP) ist um 1,9% gestiegen. Die naheliegende Vermutung wäre, dass in gleicher Höhe mehr Arbeit, gemessen in Stunden, nachgefragt wird. Diese Vermutung lässt aber die Entwicklung der Arbeitsstundenproduktivität außer Acht, nämlich dass für die Produktion der gleichen Menge an Gütern und Dienstleistungen weniger Arbeitsstunden gebraucht werden. Tatsächlich ist die Arbeitsstundenproduktivität um 1,3% gestiegen. Im Ergebnis sind also nur 0,6% mehr Arbeitsstunden nachgefragt worden.

Kommen wir nun zum Arbeitsangebot: Durch Migration ist die Bevölkerung um 1,0% gewachsen. Doch das Angebot hängt nicht nur von der Bevölkerung ab, sondern auch vom Anteil der sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellenden Menschen an der Bevölkerung, von der sogenannten Erwerbsquote. Diese ist um 1,1% gestiegen. Dadurch hat sich das Arbeitsangebot insgesamt um 2,1% erhöht.

Was aber passiert, wenn das Angebot an arbeitswilligen Personen um 2,1% gestiegen ist, die Arbeitsstundennachfrage hingegen nur um 0,6%? Die erste Vermutung: Die Arbeitslosigkeit steigt. Muss dann nicht die Beschäftigungsquote, das heißt der Anteil der beschäftigten Personen an der arbeitswilligen Bevölkerung, um 1,5% gesunken sein? Das war nicht der Fall. Denn gleichzeitig ist die durchschnittliche Arbeitszeit pro Person um 1,9% gesunken. Dadurch ist die Beschäftigungsquote sogar umgekehrt um 0,4% gestiegen.

Ehrlicherweise ist aber festzustellen: Die Arbeitszeitverkürzung war keine kollektive. Es gab mehr Teilzeitjobs, leider mehr prekäre Beschäftigung und eine Aufteilung einer gestiegenen Anzahl an Jobs auf eine noch stärker gestiegene Anzahl an Erwerbswilligen. Aber immerhin: Die Arbeitslosigkeit stieg nicht.

Die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt wurden also wesentlich dadurch reduziert, dass das reale BIP stärker gestiegen ist als die Arbeitsstundenproduktivität und folglich die Arbeitsstundennachfrage zugenommen hat. Nun könnte man optimistisch vermuten, dass Zuwanderung quasi von selbst für das nötige Wachstum des realen BIP sorgt. Das ist aber eben nicht automatisch der Fall.

Damit das BIP so kräftig steigen konnte, musste der Staat eingreifen. Die Konsumausgaben des Staates haben mit 0,7 Prozentpunkten erheblich zum realen Wachstum des BIP von 1,9% beigetragen. Von Bedeutung waren dafür auch und gerade die Ausgaben für Flüchtlinge. Die Versorgung von Migranten wurde verbessert, und zugleich haben diese öffentlichen Ausgaben das reale BIP-Wachstum gestützt.

Pro-Kopf-Einkommen

Wie aber hat sich Migration auf das Pro-Kopf-Einkommen ausgewirkt? Es ist um 0,9% gestiegen. Grund dafür war, dass das reale BIP stärker gewachsen ist als die Bevölkerung durch Migration. Wieso kam es dazu?

Wie geschildert sind die Erwerbsquote um 1,1% und die Beschäftigungsquote um 0,4% gestiegen. Was bedeutet das? Es stand ein größerer Anteil der Bevölkerung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, und von diesen Personen war zusätzlich noch ein größerer Anteil beschäftigt. Schon dadurch ist die Menge an produzierten Gütern und Dienstleitungen pro Kopf gestiegen. Hinzu kam: Die Arbeitsstundenproduktivität hat um 1,3% zugenommen, jeder Beschäftigte hat also pro Stunde mehr produziert. Auch das hat das Pro-Kopf-Einkommen erhöht. Diese drei Effekte würden sich zu einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens um 2,8% addieren. Gegengerechnet werden muss aber, dass die durchschnittliche Arbeitszeit pro Person um 1,9% gesunken ist. Im Endeffekt ist daher das Pro-Kopf-Einkommen um 0,9% gestiegen.

Ökonomische Schlüsse

Zum einen gilt: Arbeitszeitverkürzung entspannt den Arbeitsmarkt, senkt aber das Pro-Kopf-Einkommen. Bei naturwüchsiger Verkürzung verändert sich für viele Arbeitskräfte die Arbeitszeit gar nicht, wohingegen sie für andere drastisch sinkt, ggf. sogar bei Erwerbslosigkeit bis auf null. Bei kollektiver Verkürzung der Arbeitszeit sinken die gearbeiteten Arbeitsstunden solidarisch für alle Arbeitskräfte. Dennoch ist zu bedenken: Auch eine kollektive Verkürzung der Arbeitszeit senkt per se das Pro-Kopf-Einkommen.

Zum anderen gilt: Migration erfordert Wachstum! Mehr Arbeitsstundenproduktivität durch technischen Fortschritt ist Voraussetzung für die Steigerung von Pro-Kopf-Einkommen und realem BIP. Allerdings sollte das reale BIP noch stärker als die Arbeitsstundenproduktivität wachsen, denn das hierdurch steigende Arbeitsvolumen erleichtert eine Erhöhung von Beschäftigungs- und Erwerbsquote.

Herausforderungen für sozioökonomische Integration

Es wurde bisher keynesianisch argumentiert: Migration ist nicht automatisch gut fürs Pro-Kopf-Einkommen und den Arbeitsmarkt. Man braucht eben wie geschildert Nachfragewachstum der Gütermärkte.

Freilich kann progressive Fiskal-, Geld- und Strukturpolitik nur ein potentielles Aktivitätsniveau erwirken. Damit aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, bedarf es bildungspolitischer Anstrengungen.

Eine Migration, die zur Steigerung der Bevölkerung beiträgt, führt dazu, dass Kapazitäten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, bei Kitas und Schulen, beim ÖPNV stärker genutzt werden oder an ihre Grenzen gelangen. Dies kann aber den Migranten nicht vorgeworfen werden. Zu wenige Arbeitsplätze und Wohnungen, zu wenige Kitaplätze und Lehrer sind kein neues Problem, das erst im Zuge von Migration aufgetreten wäre.

Dennoch: Es gibt Engpässe, von denen viele betroffen sind, die ökonomisch „wenig an den Füßen haben“. Wer schon ohne Migration Schwierigkeiten hatte, einen Job, eine Wohnung oder einen Kitaplatz zu finden, wird bei Migration noch größere Probleme haben. Die Politik steht also in der Pflicht, für mehr Jobs, bezahlbare Wohnungen gebaut und Bildungseinrichtungen zu sorgen. Doch es gibt Verzögerungen: Die Notwendigkeit, Kapazitäten zu erhöhen, und die Möglichkeit der Umsetzung klaffen zeitlich auseinander.

Kommt die Politik ihrer Pflicht nach, wird es dennoch von Teilen der Bevölkerung Vorwürfe geben: „Wieso sind die erhöhten öffentlichen Ausgaben nicht stärker für Verwendungen zugunsten bereits hier Lebender eingesetzt worden?“ Hinter solchen Fragen steht oftmals Ressentiment, dem man entgegentreten muss. Solidarität ist kein exklusives Anrecht von Menschen, die schon immer hier gelebt haben.

Hinter solchen Fragen steckt jedoch auch ein Kern Wahrheit. Zur Verfügung stehende Mittel können nur einmal verteilt werden. Treten Belastungen bei Pro-Kopf-Einkommen, Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Bildungseinrichtungen auf, ist die Finanzierung der Verringerung von Kapazitätsengpässen vor allem von denen zu tragen, die ökonomisch potent sind. Notwendig ist also Umverteilung innerhalb der bereits hier lebenden Bevölkerung. Eine höhere Besteuerung hoher Vermögen, Erbschaften und Einkommen bleibt auf der Tagesordnung und wird im Zuge von Migration noch dringlicher. In einer Welt, deren Interdependenzen größer statt kleiner werden, bleibt innergesellschaftlicher Zusammenhalt auch dann wichtig, wenn Menschen einwandern.

Aber auch eine progressive Politik muss die Frage beantworten, welchen Migrationsumfang sie schultern kann. Hierauf nur mit ökonomischer Verwertbarkeit zu antworten, ist grundfalsch – dies betrifft insbesondere Migration wegen Kriegen und Verfolgung. Bei Migration, die ökonomisch motiviert ist, muss die Politik jedoch Knappheitsprobleme und Migrationsumfang ins Verhältnis setzen und über eine politische Steuerung von Migration nachdenken.

Ein persönliches Kurzfazit

Fluchtmigration, die durch Krieg und Verfolgung motiviert ist, muss grenzenlos ermöglicht werden – auch wenn es zu Problemen und Belastungen beim Pro-Kopf-Einkommen sowie auf dem Arbeitsmarkt kommt.

Eine Migration, die durch den Wunsch von Migranten nach Verbesserung ihres Lebensstandards motiviert ist, sollte in Grenzen zugelassen werden. Eine strikte Regelbindung, wonach Migration an die Erfüllung einzelner Kennziffern geknüpft wird, ist nicht sinnvoll, da sie grob und unflexibel ist.

Vorzuziehen ist ein Einwanderungsgesetz, das fallweise und Jahr für Jahr beachtet, welche Entwicklung sich bei Pro-Kopf-Einkommen, Arbeitsmarkt und Daseinsvorsorge abzeichnet, und so über eine Grundlage für die Steuerung der Migration verfügt.

Beim Einwanderungsgesetz sind sowohl die Interessen von Migranten als auch jene der hier lebenden Beschäftigten, Erwerbslosen, Mieter, Wohnungssuchenden und Nutzer öffentlicher Einrichtungen zu beachten.

Die Politik muss die Verteilungsfrage aufwerfen, um Belastungen gerecht zu verteilen.