Rechtspopulismus in der Mitte?

Christoph Butterwegge

Über die aktuellen Tendenzen zu einer Renationalisierung der politischen Kultur in Deutschland

Seit der DDR-„Wende“ und der Wiedervereinigung 1989/90 verschiebt sich das geistig-politische Koordinatensystem der Bundesrepublik nach rechts. Gleichzeitig wurde die demokratische Kultur des Landes durch die 1991/92 extrem zugespitzte Asyldebatte, die Walser-Bubis-Kontroverse über Auschwitz 1998, die %u201EDoppelpass%u201C-Kampagne der Union vor der hessischen Landtagswahl 1999, die Parole %u201EKinder statt Inder%u201C des CDU-Politikers Jürgen Rüttgers als Reaktion auf die Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar 2000 sowie Diskussionen über die %u201Edeutsche Leitkultur%u201C im Herbst 2000 und den (vor allem bei Bundesumweltminister Jürgen Trittin vermissten) Stolz, ein Deutscher zu sein, im Frühjahr 2001 beschädigt.

Mehr noch: Man hat den Eindruck, dass tiefgreifende politische Umbrüche das Parteiengefüge der westlichen Demokratien erschüttern. Fast überall in Europa erstarken (ultra)rechte Strömungen und verzeichnen rechtspopulistische Kräfte zum Teil erhebliche Einflussgewinne. Jörg Haiders FPÖ verhalf den österreichischen Konservativen zur Macht; der Medienmogul Silvio Berlusconi wurde erneut italienischer Ministerpräsident; nach ihrem großen Wahlerfolg im November 2001 wurde die Dänische Volkspartei zwar nicht an der Regierung ihres Landes beteiligt, nahm jedoch genauso viel Einfluss auf die Gesetzgebung wie die postfaschistische Alleanza Nazionale und die separatistische Lega Nord in Italien. Bei der französischen Präsidentschaftswahl im April/Mai 2002 erreichte Jean-Marie Le Pen den Stichentscheid, und die Liste des kurz vorher ermordeten Pim Fortuyn avancierte bei der niederländischen Parlamentswahl auf Anhieb zur zweitstärksten Kraft. Gleichzeitig wurde die sozialdemokratische Neue Mitte in den meisten EU-Staaten abgewählt und politisch-ideologisch marginalisiert.

Die pseudowissenschaftlich-publizistische Umdeutung des Rechtsextremismus zum „Rand-“ oder „Jugendproblem“

Die öffentlichen Debatten über den „Extremismus“ begegnen dem Problem eines heute offensiver, offener und brutaler agierenden Rassismus bzw. Nationalismus fast ausschließlich ereignisfixiert, sensationslüstern und banalisierend oder hysterisierend. Nicht die moralische Empörung über rechte Gewalttaten ist fragwürdig, wohl aber der vielfach unreflektierte und opportunistische Umgang mit ihnen. Diskussionen über Angriffe auf Migrant(inn)en, Gewerkschafter/innen oder Demokrat(inn)en sind keineswegs frei von widersprüchlichen Deutungen, Verkürzungen und Bemühungen um eine politische Instrumentalisierung, wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, dass in der politischen wie der Fachöffentlichkeit häufiger Entschuldigungen als Erklärungen für rassistische Gewalttaten gesucht werden.

Rechtsextremismus wird letztlich – herausgelöst aus seinem gesamtgesellschaftlichen Kontext – als etwas „Fremdes“ begriffen. „Rechts“ oder „rechtsextrem“ sind demnach nur „die Ewiggestrigen“ oder „die gewaltbereiten Jugendlichen“, „die Skinheads“ oder Parteien wie die NPD. Auf solche wahrnehmbaren – besser: nicht mehr zu übersehenden – Erscheinungsformen beschränkt sich die öffentliche und institutionelle Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Da die meisten Massenmedien praktisch nur über solche rechtsextremen Aktivitäten berichten, die strafbar sind, und hierbei wiederum das Hauptaugenmerk eindeutig auf Gewalttaten richten, erscheint der Rechtsextremismus weniger als politisches und soziales denn als Kriminalitätsproblem, was den Blick für seine Organisationsstrukturen, programmatischen Zielsetzungen und propagandistischen Erfolge trübt.

Auch die wissenschaftliche Konzentration auf „die Extreme“ lenkt zwangsläufig von der Mitte und ihrer Verantwortung für die politische Entwicklung des Landes ab. Extremismusforscher/innen blenden nicht nur den historischen Entstehungszusammenhang, sondern auch die Rolle des Staates bei der Entwicklung von Rechtsextremismus aus. Sie behandeln Rechts- wie Linksextremismus primär als Gegner der politischen bzw. Staatsordnung, nicht als ein soziales Phänomen, das in der Gesellschaft wurzelt.

Rechtspopulismus als Problem und Politikform der Mitte

Der Terminus „Rechtspopulismus“ wird oft anstelle und in Abgrenzung von „Rechtsextremismus“ benutzt, um damit deutlich zu machen, dass es sich um eine modernisierte und salonfähigere Form derselben Richtung handelt. Der Populismusbegriff ist deshalb schillernd, weil darunter sowohl basis- und radikaldemokratische wie auch antidemokratische Strömungen/Bestrebungen subsumiert werden. Er charakterisiert nicht die Politik einer Partei, sondern die Art, wie sie gemacht und „an den Mann (auf der Straße) gebracht“ wird. Rechtspopulisten haben wenig Hemmungen, ihrerseits – etwa als Parlamentsabgeordnete oder Minister – die Privilegien der Mächtigen und Regierenden in Anspruch zu nehmen, verlangen jedoch von diesen, sich persönlich nicht zu bereichern, sondern selbstlos der Sache des Volkes zu dienen.

Problematisch ist der Terminus „Rechtspopulismus“, wenn er als eine Art politischer Kosename für den Rechtsextremismus benutzt wird und einer Verharmlosung von dessen Gefahrenpotenzial dient. Durch sein populistisches Auftreten verändert der Rechtsextremismus sein Gesicht, aber nicht sein Wesen. Bei dem, was „Rechtspopulismus“ genannt wird, handelt es sich weder um ein neues Phänomen noch um eine mit dem Extremismus kontrastierende und konkurrierende Strömung. Dagegen kann man die im modernen Rechtsextremismus dominante Agitationstechnik populistisch nennen. Dabei werden Sorgen, Nöte und Bedürfnisse des „einfachen Volkes“ zu demagogischen Zwecken aufgegriffen und so in ein Projekt gegen die politische Klasse eingebaut, dass Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse unangetastet bleiben. Stattdessen wendet sich der rechte Populismus gegen (Rand-)Gruppen, denen man die Schuld an Missständen (sog. Sündenbock-Funktion) zuschiebt. Beispielsweise wird die Verarmung breiter Schichten nicht als Konsequenz einer ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen „Oben“ und „Unten“, sondern als Resultat der großen Durchlässigkeit bzw. Aufhebung des Unterschiedes zwischen „Innen“ und „Außen“ (Einheimischen und Migranten) thematisiert.

Betrachtet man die Parteienlandschaft der Bundesrepublik, so wird man wohl noch am ehesten die sog. Schill-Partei als rechtspopulistisch bezeichnen können, wenngleich sie von ihrer Gründung an versucht, sich ideologisch und organisatorisch vom Rechtsextremismus abzugrenzen. Da sich die PRO im letzten Wahlkampf zur Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg fast nur mit dem Thema „Innere Sicherheit“ bzw. „(Ausländer-)Kriminalität“ beschäftigt, „Law and order“-Parolen verbreitet und einen Ausbau der Polizei gefordert hat, weist ihr Profil gewisse Überschneidungen mit rechtsextremer Programmatik auf. Die starke Personalisierung auf den Parteigründer hat mit zu ihrem Image als Rechts- bzw. Führerpartei beigetragen, die sich auf populistische Weise der Sorgen „kleiner Leute“ annimmt.

Themen der Rechten werden zu Themen der Mitte gemacht

Argumentationsmuster rechter bzw. rechtsextremer Strömungen beziehen sich häufig auf Diskurse der „Mitte“. Diese wiederum greift zunehmend Problemstellungen auf, die zunächst in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, weshalb ich die These vertrete, dass es immer mehr Überlappungen zwischen Themen der Rechten und jenen der Mitte gibt. Angesichts des Bundestagswahlkampfes stellt sich die Frage, ob der Rechtsextremismus, von dem sich alle etablierten Parteien distanzieren, ein Rand(gruppen)problem oder ein Phänomen der Mitte ist.

Ethnisierende Zuschreibungen und nationalistische Positionen sind stärker in die politische Mitte der Gesellschaft gerückt. Daher hat der viel beschworene „Konsens der Demokraten“ gegen den grassierenden Rechtsextremismus auch eine problematische Note. Denn die dringend notwendige Abwehr von Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus kann nur Wirkung zeigen, sofern die Bekämpfung seiner strukturellen Ursachen nicht vernachlässigt wird. Wenn es allerdings um die eigene Mitverantwortung an exzessivem Rassismus sowie Auswüchsen rechtsextremer Militanz geht, wandelt sich der öffentlich proklamierte Antifaschismus der etablierten Politik zu völliger Ignoranz bzw. Verweigerung: „Ich halte nichts von der These, dass der Extremismus aus der Mitte kommt“, bekundete etwa Innenminister Schily, gefragt danach, ob das Gerede über die „deutsche Leitkultur“ die Übergriffe auf Ausländer mit hervorbringe und dem Rechtsextremismus Vorschub leiste.

In dem Interview, das am 2. November 2000 in der ZEIT erschien, warb Schily, auf Probleme der Integration von Türken und Tendenzen zur Gettoisierung (Stichwort: Berlin-Kreuzberg) angeredet, zwar für all jene Migrant(inn)en um Verständnis, die, nach Deutschland kommend, zu Menschen mit der ihnen vertrauten Sprache und denselben Gewohnheiten ziehen. Er fügte hinzu: „Das ist übrigens eine Eigenschaft, die auch dem deutschen Volkscharakter nicht fremd ist. Deutsche haben in Übersee auch immer die Nähe zu Deutschen gesucht.“ Mit einem Begriff wie „deutscher Volkscharakter“ leistet man der Ethnisierung sozialer Verhaltensweisen allerdings selbst dann Vorschub, wenn er im Rahmen der Argumentation für Migration, Integration und multikulturelles Zusammenleben benutzt wird.

Meistens werden im Kontext der Zuwanderung aber Bedrohungsszenarien entworfen, die Klischees, Ressentiments und Abwehrhaltungen gegenüber Migrant(inn)en und Flüchtlingen erzeugen. Dabei gibt gerade die Umdeutung sozioökonomischer Krisenprozesse in ethnische Konfliktkonstellationen dem Rassismus argumentativ Nahrung. Wellen rassistisch motivierter Gewalt und rechtsextremer Anschläge stehen im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um (Möglichkeiten bzw. Grenzen der) Zuwanderung und (Probleme der) Asylpolitik. Rechte Straftäter können sich – teils nicht ohne Grund – als Vollstrecker eines breit bekundeten „Volkswillens“ fühlen, was durch entsprechende Erklärungen und Stellungnahmen etablierter Politiker unterstrichen wird. Die immer wieder behauptete Weltoffenheit scheint auf für den „eigenen“ Wirtschaftsstandort bzw. die nationale Kapitalakkumulation „Nützliche“ beschränkt zu sein; den oft als „Sozialschmarotzer“ oder „Parasiten“ diffamierten Asylbewerber(inne)n schlägt jedoch eine wachsende Ablehnung entgegen.

Rassistisch motivierte Gewalttaten vollziehen sich in einem gesellschaftlichen Klima, das durch Horrormeldungen über den demografischen Wandel („Vergreisung“ und „Schrumpfung“ der Bevölkerung) einerseits sowie Auseinandersetzungen über die Formen der Zuwanderung und des interkulturellen Zusammenlebens andererseits geprägt ist. Typisch für die zunehmende Ethnisierung sozialer Beziehungen und ökonomischer Konflikte waren bzw. sind Kontroversen um die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts („Doppelpass“), Initiativen zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte („Green Card“) sowie von den Zuwanderern erwartete Integrationsleistungen (Anpassung an die „deutsche Leitkultur“). Neonazis und andere Rechtsextremisten beziehen sich zunehmend auf Politiker und Publizisten der „Mitte“, die so zu Stichwortgebern für antidemokratische Kräfte werden und ihnen manchmal regelrechte politische Steilvorlagen liefern. Umgekehrt greifen sie nicht selten Problemstellungen auf, die zuerst nur in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, weshalb es heute immer mehr Überlappungen bzw. ideologische Schnittmengen zwischen Themen der Rechten und solchen der Mitte gibt.

Literatur

Christoph Butterwegge/Georg Lohmann (Hrsg.), Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Analysen und Argumente, 2. Aufl. Opladen 2001

Butterwegge, Christoph Rechtsextremismus, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2002

Christoph Butterwegge/Janine Cremer/Alexander Häusler/Gudrun Hentges/Thomas Pfeiffer/Carolin Reißlandt/Samuel Salzborn, Themen der Rechten %u2013 Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002